CAÑARI – Gold, Götter und kleine Geister

Yucatan, die mexikanische Halbinsel. Surferparadies und Maya-Pyramiden, Touristen und 1600 geschichtsträchtige Jahre, Mythen und Geheimnisse. Autor Didier Crisse und Zeichner Carlos Meglia nehmen uns mit in diese fremde Welt, in das Damals und in das Heute.

Im Ort Tulum treffen wir im heutigen Yucatan den Mechaniker Wayne mit seinen Kumpels. Wayne ist als Waise aufgewachsen und verbringt zu Hause in Kalifornien die meiste Zeit am Strand auf seinem Surfbrett. Eines Tages erhält er eine Postkarte von jemandem, den er nicht kennt und der sich auch nicht durch eine Unterschrift zu erkennen gibt. Dort steht nur Abuela – Großmutter.

Wayne’s Interesse für den Ort ist geweckt und nun ist er hier. Wieder. Denn zu Hause spart er sich die Reisen an seinen Sehnsuchtsort immer wieder zusammen, ohne genau zu wissen, warum Tulum sein Sehnsuchtsort ist. Dies erzählt er auch einer Zufallsbekanntschaft, einer alten Frau, die ihn vor der Kneipe anspricht, in der seine Kumpane ein Saufgelage feiern.

Harter Schnitt. Wir springen in die Vergangenheit und lernen die Namensgeberin der Geschichte, CAÑARI und ihre Geschwister, die Zwillinge Kya und Xuma, sowie ihren Bruder Xaotil, an dem Tag kennen, an dem neue Fremde zu Besuch kommen, um Handel zu treiben. Die Geschwister wollen ihnen heiliges Wasser verkaufen und machen sich bei ihrer Ankunft auf den Weg zum heiligen See, um es dort frisch zu schöpfen.

Die Häuptlingstochter CAÑARI hat es mit ihren quirligen Geschwister nicht leicht. Ihre Autorität wird regelmäßig in Frage gestellt und so finden sich alle schnell bei einem Bad im heiligen See wieder. Dabei verschwindet Xaotil spurlos in der Dämmerung.

Auf der Suche nach dem kleinen Bruder durchsuchen die verbliebenen Drei auch die nahegelegene Totenschädel-Grotte, die für die morgige Zeremonie, in der die Menschen den Göttern begegnen, mit Schmuck, Gold und Edelsteinen bereits vorbereitet ist. Kya – ganz verspielte Dame – streift sich dabei einen goldenen Armreif über, den sie in der Folge aber nicht mehr abnehmen kann.

Nach Hause zurückgekehrt beichtet CAÑARI ihrem Vater, was geschehen ist. Ihr Vater ist außer sich vor Ärger und Sorge, weil kleine Kinder im Dschungel kaum Überlebenschancen haben und CAÑARI, als Älteste, Xaotil dort zurückgelassen hat. Außerdem trägt Kya einen Armreif, der für die Götter als Geschenk gedacht ist. Sobald diese merken, dass eines der Geschenke fehlt, droht ihrem Volk eine dunkle Zeit. Er schickt CAÑARI also zurück, ihren Bruder zu finden und den Armreif zurückzulegen.

Trotz intensiver, nächtlicher Suche bleibt Xaotil verschwunden. Nachdem sie kleinen Waldgeistern, den Pookas, begegnet sind, entdecken die Drei in einem Höhleneingang die Stirnmaske ihres Bruders, werden aber von einem großen Panter überrascht und müssen in den See abtauchen, um zu fliehen. Einem Licht folgend gelangen sie durch einen Tunnel in eine geheimnisvolle Stadt. Eine Stadt zwischen den Welten…

CAÑARI – „Die goldenen Tränen“ war vor Jahren der erste Band, der mir vom Splitter-Verlag in die Hände fiel. Die Klappentext-Beschreibung klang interessant:

Was treibt den surfbegeisterten Wayne immer wieder an jenen einsamen Strand an Mexikos Küste, der nicht gerade für  eine Killerwellen bekannt ist? Irgendetwas zieht ihn magisch an, etwas, das möglicherweise der Schlüssel ist zum Rätsel seiner eigenen Herkunft.

Ein Rätsel, das zurückreicht bis in die Zeit lange vor der Eroberung Mexikos durch die spanischen Konquistadoren. In eine wilde und mystische Zeit, als Menschen und Götter noch auf Tuchfühlung waren. Hier geschah es, dass die junge Cañari ihren kleinen Bruder Xaotil am Abend vor dem Tag Ix verlor, dem Tag, an dem die Menschen ihren Göttern begegnen. Cañaris Suche nach ihrem Bruder führt sie tief in den Dschungel auf eine fantastische und gefährliche Reise, die alles in den Schatten stellt, was das junge Mädchen sich vorzustellen wagte.[1] 

Vielleicht waren es aber auch die ungewöhnlichen, detailreichen Zeichnungen von Carlos Meglia, die mich sofort in ihren Bann zogen. Dieser Band war jedenfalls der erste Comic, der nach langer Zeit mein Interesse an der neunten Kunst neu entfachte. Und es dabei beinahe auch vermasselt hätte!

Bereits der Anfang ist verwirrend. Eben noch sitzen wir mit Wayne vor einer Kneipe, lauschen seinem Gespräch mit einer alten Frau und – bumps – befinden wir uns nach dem bereits erwähnten harten Cut irgendwo / irgendwann in der mittelamerikanischen Vergangenheit und treffen CAÑARI und ihre Geschwister. Kein weicher Übergang, keine Erläuterungen, wo wir uns befinden oder was das eine mit dem anderen zu tun hat. Dass die beiden Geschichten schon irgendwie zusammenhängen werden, ist mir bei einem Autor wie Didier Crisse inzwischen klar. Aber auch erst heute und nicht, als ich dieses Album das erste Mal lesen durfte.

Und hier liegt für mich schon der erste Kritikpunkt. In einer Geschichte, in der vom Zeichner ausgiebig mit Tiefen(un-)schärfe-Einstellungen gespielt wird, verschwommene Vorder- und Hintergünde verwendet werden, lässt der Autor diesbezüglich jeglichen Spieltrieb vermissen. Einzig die Tatsache, dass die alte Frau, mit der sich Wayne zu Beginn im Heute unterhält (Vorsicht Spoiler!), ja, dass sich diese Alte am Ende des ersten Bandes auch als CAÑARI’s Großmutter – die Abuela –  im Damals herausstellt und wir zusammen mit Wayne im letzten Panel wieder vor der Totenschädel-Grotte stehen, verbindet die Geschichten miteinander und bildet den Cliffhanger zum zweiten Band.

Zwischen diesen „Deckeln“ wird der Plot flüssig und transparent erzählt. Wie schwer es CAÑARI, als Älteste, mit ihren Geschwistern hat, wie hoch die Erwartungshaltungen der älteren Familienmitglieder an sie und ihr Verhalten sind, was es bedeutet, von jetzt auf gleich erwachsen werden zu müssen – davon erzählt die nur 48-seitige Geschichte des ersten Bandes ohne viel erzählerischen Firlefanz.

Wieso sich CAÑARI gegen ihre beiden Racker-Geschwister nicht durchsetzen kann und sie ihren kleinen Bruder auf eine Reise in die Nacht mitnimmt, ist mir allerdings schleierhaft. Gerade hat sie ihr – zu recht wütender – Vater dafür verantwortlich gemacht, unaufmerksam gewesen zu sein und den anderen Bruder verloren zu haben, schon nimmt sie die Übrigen mit auf die Suche in einen Dschungel, in dem Kinder nachts nicht überleben.

Manchmal treten die Beweggründe der handelnden Personen einfach nicht klar hervor. Ihre Schwester Kya muss sie begleiten, die hat schließlich den Goldreif am Arm. Xuma hingegen sieht in der Suche einfach nur ein riesiges Abenteuer, während CAÑARI ihrem Bruder helfen und sich selbst rehabilitieren will.

Aber was verleitet CAÑARI Xuma mitzunehmen? Er erscheint im Augenblick nur als jemand, der CAÑARI’s Aufmerksamkeit von allem ablenkt, was hilfreich sein könnte, um Xaotil zu finden. Aber weder der Vater, der ihr Fortgehen beobachtet, noch ihre Mutter, noch ihre Großmutter greifen ein. Vielleicht weil der eine, der verloren ging, wichtiger ist als alle anderen und die Hoffnung größer wird ihn zu finden, umso mehr Leute auf die Suche gehen? Nur dann stellt sich die Frage: Warum mobilisieren sie nicht alle, denen sie vertrauen können?

Weil es CAÑARI Reise ist! Es ist ihre Coming-Of-Age-Geschichte, ihr Initiations-Ritus. Sie muss es – faktisch – allein schaffen, muss aber gleichzeitig als Häuptlingstochter lernen, auf andere zu vertrauen und sie anzuführen. Sie muss sich ihre Autorität und ihr Erwachsen-Sein erarbeiten.

Zeichnerisch ist die Geschichte sehr abwechslungsreich erzählt. Carlos Meglia verwendet Panel-Aufteilungen von klassischen, über offene Panel bis hin zu In-Set-Panel, um die Geschichte schwungvoll, dynamisch zu erzählen. Man merkt seinen Arbeiten an, dass er eine Zeit lang für den  argentinischen Zweig der Hanna-Babera-Studios als Hintergrundkünstler gearbeitet hat. Sie sind opulent, in den Großaufnahmen wirken sie dadurch beeindruckend und sind einfach nur boooah! (bewundernder Ausruf)

In einem normalen Panel allerdings „verschmelzen“ die Personen und Umgebungen miteinander, verschmelzen in einem farblich kräftigen Ansturm auf die Sinne. Dies gilt auch, weil die sonst übliche, schwarze Tusche von Carlos Meglia durch alle möglichen Schattierungen von Braun ersetzt wird.

Und genau das alles (dynamische Panel-Gestaltung, intensives Coloring, braune Konturen) hat mich beim ersten Lesen visuell angezogen aber auch überfordert. Denn in manchen, kompliziert konstruierten Sequenzen leidet die Unterscheidbarkeit des Gezeigten doch erheblich.

Demgegenüber ist der moderate Einsatz der Text-Ballons und des Lettering geradezu beruhigend. Die Reihung der Sprechblasen führt den Leser durch den dichten Dschungel der Farben und die Texte. Insbesondere diejenigen, in denen der vorlaute Xuma das Geschehen humorvoll kommentiert nehmen der Dramatik des Ganzen die eine oder andere Schärfe. (Und ja: Xuma wird im Laufe der Geschichte nicht nur als Comic-Relief noch wichtig.)

Das Charakter-Design der handelnden Figuren erinnert mich sehr an den einen meiner Lieblingszeichner, Jose Luis Munuera, und seinen leicht cartoonesken Zeichenstil (wie z.B. bei DIE CAMPBELLS). Nur das Munuera bei der Gestaltung seiner Bilder Wert auf eine klare Fokussierung der Personen und ihrer Handlungen legt, weniger auf die Hintergründe, anders als Carlos Meglia, dem man seinen (Vorsicht Wortspiel!) „Background“ bei Hanna Barbera anmerkt.

Nun, nach Jahren – und (wieder) geübter im Lesen von Comics – erschließt sich mir das Album erheblich besser als damals. Es macht richtig Spaß, es erneut zu lesen. Heute kann ich die Qualität der Zeichnungen und die Kompaktheit der Geschichte wertschätzen. Damals wäre das Wiederaufblühen meines Interesses an der neunten Kunst beinahe an den oben beschrieben Eigenheiten des Zeichenstils zerschellt.

Darum empfehle ich es hier also Niemandem, der sich neu mit Comics beschäftigen möchte. Greift lieber zu den aktuellen Bestsellern der Branche, lernt woanders, was Bildsprache und Sequentielle Kunst zu bieten haben und kommt dann später zu diesen beiden Alben zurück. Sie verdienen es.


CAÑARI – Band 1 – Die goldenen Tränen

© Splitter-Verlag | Hardcover | 48 Seiten | Farbe
Storyline:  ★★★☆☆
Zeichnungen:  ★★★☆☆
Lettering:  ★★★★★
Humor:  ★★★☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★☆☆
ISBN: 978-3-939823-18-6
Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.
[1] Verlagsbeschreibung

 Bände der abgeschlossenen Reihe:
1 – Die goldenen Tränen
2 – Die letzte Welle

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