Nachdem ich bei Warcraft III, dem Spiel, raus war – ja, 2D-Warcraft, nicht sein Nachfolger World of Warcraft – und ich die Herr-der-Ringe-Reihen von Peter Jackson gesehen hatte, war das Thema Fantasy für mich ja eigentlich Geschichte. Eigentlich. Gutmenschen, leichtfüßige Elfen, rumpelige Zwerge hier, böse Orcs und Dunkelelfen da. Was sollte da noch kommen?? Alles schon gesehen. Alles schon gehört. Dachte ich jedenfalls.
Dann bekam ich letztes Jahr einen Hinweis auf THE HUNGER AND THE DUSK aus dem IDW Publishing Verlag geschrieben von G. Willow Wilson (Ms. Marvel, The X-Men, Wonder Woman) und illustriert von Chris Wildgoose (Batgirl: Rebirth, Batman: Nightwalker; Porcelain: A Gothic Fairy Tale). Und woah, diese Serie hatte wirklich alles, was gute High Fantasy ausmacht. Sie gibt den alten Themen noch einmal ganz neue Wendungen mit. Okay, ich habe angebissen und war innerhalb kürzester Zeit angefixt. Zur Story:
In einer zerfallenden Fantasiewelt gibt es nur noch Menschen und Orcs – Todfeinde, die um Territorium und politische Vorteile kämpfen. Doch als eine Gruppe furchterregender, alter Humanoider, die Vangol, über das Meer kommt, sind die beiden kämpfenden Zivilisationen gezwungen, eine fragile Allianz einzugehen, um zu schützen, was sie aufgebaut haben.[1]
Die Elfen sind fort. Die Zwerge auch. Dafür betreten die Vangol also die Bühne. Sie sehen aus wie die Skinny-Variante der Morlocks aus der H.G.Wells-Verfilmung „Die Zeitmaschine“ um Rod Taylor von 1960. Magerer und mit weniger Körperbehaarung, aber genauso biestig und angriffslustig.
Doch zu Beginn der Handlung sehen wir sie erst einmal nicht. Sie schlagen im Schutz der Dämmerung zu, schnell, zu schnell, als dass die Angegriffenen eine Chance auf Gegenwehr hätten. Die Gewalt ist brutal und unmittelbar. Und den Vangol ist es egal, ob sie kampferprobte Orcs attackieren oder Menschensiedlungen. Die Ergebnisse sind stets dieselben.
So geht das nicht weiter. Die Menschen und die Orcs müssen sich verbünden, denn nur gemeinsam können sie sich dieser Bedrohung erwehren. Aber Jahrhunderte des Kampfes und des Rassismus sind unter diesen Bedingungen nicht einfach aus der Welt zu schaffen. Zulange haben die Parteien unbarmherzig um Ressourcen und Lebensraum gekämpft.
Cal Battlechild soll den Handel für die Menschen eingehen, Troth Icemane für die Orcs. In Folge dieses Abkommens schickt dieser seine Cousine, Gruakhtar Icemane genannt Tara, als Heilerin mit Cal’s Kampfgruppe – die Last Men Standing – auf eine folgenschwere Reise. Im Zuge dieser Erkundung nähern sich Val und Tara an und entwickeln recht zögerlich ein wachsendes Verständnis füreinander. Schnell wird dieses neue Bündnis jedoch auf die Probe gestellt, als ein Vangol-Späher das Lager auskundschaftet und dabei gefasst wird. Die darauf folgenden Ereignisse lassen Zweifel aufkommen, ob das fragile Bündnis zwischen Menschen und Orcs tatsächlich Bestand haben kann.
G. Willow Wilson erzählt die Ereignisse in erster Linie aus Tara’s und Troth‘ Perspektive. Die Orcs von THE HUNGER AND THE DUSK sind keine hirnlosen, grobschlächtigen Kampfmaschinen. Würde man ihnen die spitzen Ohren abschneiden, den Körperschmuck nehmen, schon könnten sie als Menschenstamm irgendwo aus den bergigen Landen durchgehen.
Troth ist erst vor Kurzem zum Oberhaupt des Icemane-Clans erhoben worden und musste aus politischen Gründen auf einen ehelichen Bund mit Tara verzichten. Sie wiederum ist als sehr geschickte Heilerin ein Gewinn für Cal’s Kampfgruppe. Und auch Troth‘ neue Braut, Faran, entpuppt sich für ihn schnell als loyale und schlaue Gefährtin.
Die Ränkespiele der Orc-Clans entwickeln sich genauso entlang der Grenzlinien von Tradition, Macht und Misstrauen, wie wir es von den Menschen kennen. Man ist sich halt ähnlicher, als alle Beteiligten es zugeben würden.
Und genau darum geht es in dieser Geschichte. Eine alte Weisheit lautet: Nicht der Stärkste überlebt und nicht der Schnellste. Sondern der Anpassungsfähigste!
Ist Anpassungsfähigkeit eine Form von Klugheit? Oder ist der Anpassungsfähigste nur der moralisch Flexibelste? Wie hoch muss der Leidensdruck sein, damit er oder sie anerzogene Vorurteile über Bord wirft und sich mit Feinden gegen eine gemeinsame Bedrohung verbündet? Was ist der / die Einzelne bereits zu tun, wenn sich die äußeren Umstände ändern. Wo liegen seine / ihre Loyalitäten? Und wie intensiv widersetzen wir uns dabei gegenüber alten Beziehungen, welche Chancen geben wir neuen?
Es geht in dieser Geschichte um Andersartigkeit und um Toleranz gegenüber diesem Anderen.
Das Charakterdesign unserer Protagonisten ist bis in die Nebenrollen hinein detailliert und nachvollziehbar. Einige Rückblenden lassen uns am bisherigen Leben von Tara teilhaben. So lernen wir, wie sich ihre Beziehung zu Troth entwickelt hat und wie sie zurückgewiesen wurde. Die Motivation unserer Protagonisten wirkt klar: Überleben in Zeiten größten gegenseitigen Misstrauens und persönlicher Verluste!
Die Frauenfiguren der Reihe sind emanzipiert. So auch Tara. Sie haben Stärken und Schwächen und dienen nicht nur als Love-Interest. Die männlichen Rollen sind ebenfalls mit Mut, aber auch mit Selbstzweifeln mehrdimensional angelegt.
Warum die Antagonisten, die Vangol, zurückkommen, genau jetzt und wo sie waren, dies sind jedoch die Fragen, die wir in dieser Staffel nicht beantwortet bekommen. G. Willow Wilson konzentriert sich auf die ersten beiden Rassen. Die Antworten auf diese Fragen hebt sie sich für kommende Episoden auf.
Der Humor kommt ein wenig kurz. Kein Wunder bei dieser Bedrohungslage. Er findet sich in einzelnen Szenen dann aber doch, z.B. wenn Sev, der Barde, feststellt, dass die Lieder, die er kennt nur Schreckliches über die Orcs zu berichten haben und dass er sie – vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen – alle (!) neu schreiben muss.
Wobei sich der geneigte Leser natürlich fragt: Was sucht ein Barde ohne wirklich Kampferfahrung eigentlich in dieser gemischten Truppe auf lebensgefährlicher Mission? Außer natürlich handelt es sich bei Sev um den Komiker – in jeder Gruppe gibt es einen Komiker – und damit unter Umständen um den entbehrlichen Side-Kick. Nur ist er nicht derjenige, der den Vangol-Angriffen in diesem Teil der Serie zum Opfer fällt. Und für einen Comic-Relief nach emotional anstrengenden Kampfszenen gibt es zu wenige dieser komischen Momente. Weil das Worldbuilding bisher aber gut funktioniert, hat G. Willow Wilson vielleicht ja noch etwas mit ihm vor, wer weiß?!
Mit seinen ausdruckstarken, dynamischen Zeichnungen leistet Chris Wildgoose einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der gesamten Serie. Das Pacing ist abwechslungsreich und hilft uns beim Einstieg in diese Welt. Man merkt ihm seine Erfahrung als Konzept-Artist in Film und Fernsehen an (u.a. Assassin’s Creed, Eternals).
Die Aufteilung und Gestaltung der Panels entsprechen der jeweils aktuellen Situation. Die Bildsprache deckt das komplette Spektrum ansprechender Kameraführung ab: von ruhig bis kraftvoll, langsame „Schwenks“ bis hin zu schnellen Schnitten, von Totalen bis zu Großaufnahmen. Dabei sind die Zeichnungen detailreich und das Charakterdesign von hohem Wiedererkennungswert.
Unterstützt wird diese kraftvolle Darstellung durch die ländliche, zumeist in Naturfarben gehaltene Kolorierung der in Kanada lebenden Michele Assarasakorn (Msassyk) Auch sie hat schon an Wonder Woman und Ms. Marvel mitgewirkt. Ihre breite Farbpalette differenziert die beteiligten Gruppen, auch innerhalb der Orcs und der Menschen. Rot spiegelt hier nicht nur das Blut sondern auch die Emotion.
An anderen Stellen – immer dann, wenn wir das Gebiet der Vangol betreten – sind die Farben blass, nebelig, ausgesaugt oder unterirdisch dunkel. Diese Kreaturen scheuen offensichtlich das Licht und bewegen sich lieber im ersten oder letzten Schimmer des Tages, wenn alles schon bzw. noch grau erscheint.
Das gemischt Kreativteam Wilson / Wildgoose / Assarasakorn liefert eine sehr ansprechende Arbeit ab. G. Wilow Wilson wurde bereits mehrfach für den Eisner Award als beste Autorin nominiert. Das merkt man der Geschichte an. Vielleicht wird die Jury ihr und / oder den beiden Anderen im laufenden Jahr die Anerkennung zollen, die diese Serie meiner Meinung nach verdient.
Aber keine Rezension ohne Kritik, auch wenn es mir diese Serie schwer macht. Der größte Kritikpunkt gilt nicht der Serie selbst, sondern ist, dass bisher kein deutschsprachiger Verlag in der Lage war, sie in sein Sortiment aufzunehmen. Die Schwierigkeiten der Branche mit nordamerikanischen Lizenzen sind derzeit kein Geheimnis. Und nach dem, was man so hört, bekleckert sich insbesondere IDW Publishing bei diesem Thema nicht mit Ruhm.
Die ersten Hefte von Volume 1 sind 2023 erschienen. Inzwischen ist die Reihe in die zweite Staffel gegangen (Volume 2). Die Hefte werden monatlich publiziert, die Bände vier und fünf sind für März und April avisiert.
Hoffen wir, dass Verlagsprobleme nicht zu einem vorzeitigen, unbefriedigenden Ende und einem Stopp der Serie führen. Das würde dieser herausragenden Reihe nicht gerecht.
THE HUNGER AND THE DUSK, Vol. 1 (Sammelband; beinhaltet Bände 1 – 6; Reihe wird fortgesetzt)
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