Fahr‘ mit – in WUNDERVOLLE SOMMER!

Sommer 1973: Zidrou – im bürgerlichen Leben Benoit Drousie – und Jordi Lafebre (Trotz allem … Liebe) nehmen uns mit in eine Zeit, in der Reisen noch ein echtes Abenteuer war. In eine Zeit der Grenzkontrollen, in eine Zeit, als Navigationssysteme noch aus Windschutzscheiben-großen Falk-Falt-Plänen oder kiloschweren Shell-Atlanten bestanden, als der Kontakt mit zu Hause schwierig und das Internet noch nicht erfunden war. Anschnallen? Pffttt! Wozu?

Die Welt dort draußen schaut auf das Watergate-Hotel, auf einen Henry Kissinger, der US-Außenminister und einen Carl XVI Gustaf, der neuer Regent von Schweden wird. Es ist die Zeit, in der die beiden Deutschen Staaten den Vereinten Nationen beitreten, der vielen Haare und der Schlaghosen. Lang, laaaang ist’s her. Im Leben der belgischen Familie Faldérault spielt das alles aber keine Rolle. Es geht in den Urlaub nach Frankreich und der Weg ist das wahre Ziel, richtig?

Vater Pierre lebt mit mäßigem Erfolg seinen Traum als Comiczeichner und wird – wieder einmal – mit den Auftragsarbeiten nicht rechtzeitig fertig, um seine Lieben in den alten, roten R4 zu packen und sie in den wohlverdienten Urlaub zu entführen.

Madeleine arbeitet als Verkäuferin im örtlichen Schuhgeschäft und hält die sechsköpfige Familie über Wasser. Zufrieden ist sie damit aber nicht. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Ja, davon haben sie nicht geträumt! Ergo: Es kriselt in der Familie. Und über eine Scheidung wurde bereits gesprochen.

Die Töchter Julie (pubertär, blond und schlaksig), Nicole (dunkelhaarig mit Babyspeck) und Paulette (die kleinste) sind wie Sohnemann Louis-Mittendrin geduldig, wenn es darum geht, die übliche Wir-starten-einfach-ein-paar-Tage-später-in-den-Urlaub-Verzögerung zu ertragen. Von der Krise ihrer Eltern wissen sie noch nichts und das ist gut so.

Stattdessen vertieft sich Louis auf der ersten Seite der eigentlichen Geschichte in den neuesten Lucky Luke (i.e. „Der Großfürst“), der hier gleichzeitig als Hommage an die berühmten Kollegen unserer Autoren (Morris und Goscinny) verstanden werden darf.

Schließlich setzt Papa den letzten Strich, schickt den Botenjungen Benoit (!) zur Druckerei, kickt die Pantoffeln von den Füßen uuuuuund los geht’s!

Es ist wie üblich ein Campingurlaub und es passiert … eigentlich nichts! Aber dies mit so feinsinnigem Humor und stimmigem Tempo, dass wir trotzdem gerne einsteigen. Großartig ist zum Beispiel, wie die Familie ihren (!) Rastplatz am Wasser von einem holländischen Urlauberpärchen zurückerobert. Nur um später zu erfahren, dass genau diese Holländer den letzten Zeltplatz für die Nacht bekommen haben da sie früher angekommen sind. Oder wenn im Kinderzelt die weiblichen Wechseljahre thematisiert werden: „Was sind Wechseljahre?“ – „Wenn man nicht mehr hat, was Du noch nicht hast!“

Leider kommt der entspannten Zeit ein Todesfall in der daheim gebliebenen Familie in die Quere, gefolgt von einer 800 km langen Tour-de-Force Richtung Heimat (1973. Mit dem R4. Mit 6 Personen im Auto und einer Madeleine, die keinen Führerschein hat aber fährt). Der Urlaub ist nun erst einmal beendet. Nicht jedoch, bevor der Haussegen bei den Faldérault’s wieder gerade hängt. Auch nur deshalb gibt es überhaupt die Bände vier und fünf (die Alben für die Folgejahre).

Die verschiedenen Bände der Reihe sind nicht chronologisch in Szene gesetzt, was dem Spaß an den Geschichten aber überhaupt keinen Abbruch tut. Im Gegenteil. Wir lernen die Faldérault’s dadurch vielleicht sogar besser kennen. Sie sind eben nicht einfach nur geradeaus. (Und das Jordi Lafebre mit nicht-linearen Zeitverläufen in seinen Werken umgehen kann, wissen wir spätestens seit „Trotz allem … Liebe„.)

Zidrou und Lafebre erzählen uns vermeintlich einfache Geschichten über die Träume unserer Protagonisten – im Speziellen – und das Leben der 70er im Allgemeinen. Sie wecken in uns Älteren wehmütige Erinnerungen an eine Zeit, in der man mit der Familie verreiste und sich nicht nur nebeneinander ein Fahrzeug teilte. Den Jüngeren vermitteln sie das Bild von einer Welt, die auch ohne Social-Media funktioniert und ganz nebenbei die eigene Kreativität befeuern könnte.

Zidrou spricht ernste Themen mit der ihm eigenen Leichtigkeit an, von der wir aber natürlich alle wissen, wie schwer sie tatsächlich ist. Ob es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, männliche Vorrechte, sexuelle Orientierung oder gesellschaftliche Ächtung: Egal. Zidrou postuliert keine Normen. Jede und jeder darf sich eine eigene Meinung bilden und behalten, ohne sofort in eine Ecke gedrängt zu werden. Und genau diese Leichtigkeit lässt uns das jeweilige Thema unaufgeregt betrachten.

Lafebre setzt die geschilderten Ereignisse mit leichtem Strich und humorvoller Grundstimmung in frankobelgischen Zeichnungen um. Klare Charakterdarstellungen, detaillierte Hintergründe und ein stimmiges Farbkonzept (unterstützt von Mado Pena) mit bewusst gesetzten Lichtern und Schattierungen machen Lust auf den nächsten, eigenen Ausflug. Wohin auch immer. Die Aufteilung der Panel ist ruhig, klassisch ausgeglichen und vermittelt eine entspannt dahinfließende Reise Richtung Süden.

Ich liebe diese Serie für alles, was ihr fehlt: keine halsbrecherische Aktion, keine Verschwörungen, keine Gewalttaten oder verkomplizierte Plots.

Und für alles, was sie hat: Normalität, die kleinen Freuden des Lebens, Alltagsprobleme, Familiensinn, einen einzigartigen Humor und – komme was wolle – beständige Gewissheiten wie

Die Tüte Fritten direkt hinter der belgischen Grenze ist heilig!

Ja, das Leben ist schön! Und wenn es Dir Zitronen gibt, mach‘ Limonade daraus. Also liebe Leser: wer weiß schon, wohin es das nächste Mal geht? Nach Oslo? Berlin? Oder Reykjavik? Nein es geht „Jeee! Ab in den Süden!“

Ach ja, eins noch: In jedem Band spielt Musik ein kleine, aber feine Nebenrolle. Zidrou und Lafebre geben uns den Soundtrack des Jahres an die Hand und unterstreichen damit die aktuelle Zeit und das vorherrschende Lebensgefühl. Von Chansons bis zu Pink Floyd: es macht Spaß, sich den Soundtrack der jeweiligen Reise herauszusuchen und anzuhören. „Elle court, elle court, la maladie d’amour …“


WUNDERVOLLE SOMMER – 1. Ab in den Süden! (1973)

© Salleck Publications | Hardcover | 56 Seiten | Farbe
Storyline:  ★★★☆☆
Zeichnungen:  ★★★★☆
Lettering:  ★★★★☆
Humor:  ★★★★☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★☆
ISBN: 978-3-89908-633-1
Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.

  Die übrigen Bände der Reihe:
2. Die Bucht am Meer (1969)
3. Mam’zelle Estérel (1962)
4. Die Zuflucht des Kriegers (1980)
5. Der Ausreißer (1979)
6. Les Genets (1970)
Der Abschlussband? Aber wer weiß das schon so genau? 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben