Manchmal glaubt man jemanden zu kennen. Oder wiederzuerkennen. Manchmal ist es eine frapierende Ähnlichkeit, manchmal auch nur der Hauch einer Erinnerung an etwas, das einmal war und das aus den dunklen Ecken des eigenen Gedächtnisses gekrochen kommt und sacht an die Oberfläche gleitet.
Verbirgt sich hinter dem übelsten Killer in ganz Mexiko … der weltbeste Staubsauger-Reparateur? Jack Ramirez hat es bei Robotop Haushaltsgeräte zum Mitarbeiter des Jahres gebracht: ein stiller, allseits beliebter Mann – kein Wunder, er ist stumm. Durch eine zufällige Begegnung gerät er ins Visier der mexikanischen Drogen-Mafia, die ihn lieber jetzt als gleich um die Ecke bringen würden. Eine Verwechslung? Die perfekte Tarnung? Eine raffinierte Falle? Vor einer Kulisse mit Vintage-Originaldekor beginnt eine verrückte Hetzjagd voll atemberaubender Wendungen. [1]
Jack Ramirez, der Mann mit dem übergroßen Jheri Curl auf dem Kopf, der ihm steht wie eine Karnevalsperücke, einem mächtigen Schnurrbart unter seiner großen Hakennase, treuen Hundeaugen und einem riesigen Feuermal im Gesicht ist 1987 ein freundlicher, hilfsbereiter Kollege in der Zentrale des Staubsaugern-Herstellers Robotop in Arizona. Zwei besondere Eigenschaften zeichnen ihn aus. Erstens: er ist stumm. Und zweitens: er repariert jedes technische Gerät in Rekordzeit, wenn alle anderen aufgegeben haben. Letzteres ist es auch, was seinen Chef daran hindert, ihn permanent in die Pfanne zu hauen. Sein Leben verläuft in ruhigen Bahnen.
Zumindest bis zu dem Tag, an dem zwei zwielichtige Gestalten in der Zentrale auftauchen, weil sie einen kaputten Mixer zur Reparatur abgeben wollen und sie Ramirez für den mexikanischen Profikiller gleichen Aussehens halten. Einen abtrünnigen Profikiller, einen der auf der Flucht vor ihrem Kartell untergetaucht ist. Und das, was dann folgt, hätte sich ein Quentin Tarantino nicht besser ausdenken oder in Szene setzen können.
SHOOTING RAMIREZ ist ein Comic wie ein Film. Der erste Band (1. Akt) ist nach klassischer Drehbuch-Konzeption die Exposition – die Einführung – und stellt uns die handelnden Personen und Orte vor. Jack kennen wir bereits. Auf Seiten der Antagonisten kommen Hector Rodriguez, ein Drogenboss, und sein Ausputzer, Ramon Cabroun, sowie der Cop Eddy Vox hinzu. Und dann sind da ja noch Chelsea Tyler, eine mittelmäßige Schauspielerin, und ihre Freundin Dakota Smith, die nach einem „Vorfall“ bei den Dreharbeiten zu Chelsea’s neuestem Film polizeilich gesucht werden. Das Geld für ihre übereilte Flucht haben sich die beiden bei einem Bankraub verschafft. Ihr letzter Film in den Kinos – „Furious Jack – Sie erledigt ihren Alten, sein Geld will sie behalten“ – lief nicht wirklich gut. Thelma & Louise lassen grüßen.
In dieser Konstellation wollen die Frauen weg, Ramirez wird verfolgt und muss weg, der Cop und die Killer wollen hinter ihnen her und in der zweiten Hälfte des Bandes steigert sich die Geschichte zu einem Action-geladenen Mafia-Roadmovie der Extraklasse. Der 2. Akt – Drehbuch-technisch – beginnt bereits hier: die Konfrontation! Und im Hintergrund wirken noch unbekannte, aber tödliche Kräfte mit, um den Mann mit den traurigen Augen am Leben zu erhalten.
Nicolas Petrimaux hat mit diesem Comic ein Werk abgeliefert, dass den Vergleich mit anderen Exemplaren des Genres nicht zu scheuen braucht und das gleichzeitig mit Blick über den Tellerrand des Mediums hinaus bestehen kann. Der Vergleich mit Quentin Tarantino’s Filmen kommt nicht von ungefähr.
Die Art der Erzählung erinnert stark an „From Dusk Till Dawn“, weniger an „Pulp Fiction“, da Petrimaux keine Erzählstränge nebeneinander legt, die (vielleicht) ineinander übergehen. Die Geschichte gibt von Anfang an Gas und steuert in rasantem Tempo auf irgendeinen Abgrund zu. Und mittendrin Jack – von dem wir lange Zeit nicht so richtig wissen, wer und wie gefährlich er wirklich ist.
Was diesen Comic besonders macht, sind außerdem die kleinen – und großen – Anspielungen auf die Pop-Kultur der spätem 80er Jahre in den Vereinigten Staaten von Amerika. Petrimaux selbst hat in einem Interview bei Veröffentlichung des Buches verkündet, dass er sich selbst nicht mehr daran erinnern kann, wie viele Anspielungen er insgesamt untergebracht hat. Aber die bereits angesprochenen Thelma & Louise gehören genauso dazu wie Michael Jacksons rote Lederjacke aus Thriller, Robocop (statt Robotop), die mit Eifer erwarteten und live übertragenen Produktpräsentationen wie bei Apple oder die plötzlich endenden Brücken bei Highway-Verfolgungsjagden à la Speed. Mit jedem erneuten Lesen fallen uns neue Dinge auf. Und ja, mich würde es nicht wundern, wenn im 3. Akt Crocket & Tubbs ihren Auftritt hätten, weil es unsere Protagonisten auf der weiteren Flucht nach Miami verschlägt.
Nicolas Petrimaux hat es sich nicht leicht gemacht. Er arbeitet aufwendig, zeitintensiv und mit Liebe zum Detail. Seine Dialoge sind aus dem Leben
gegriffen und auf den Punkt. Kein Wort zu viel, keine Erläuterung zu kurz. Von Jack erhalten wir keine Antworten. Schließlich ist er stumm. Und doch erhalten wir als Beobachter Antworten auf alle Fragen, die uns wie seinen „Gesprächspartnern“ durch den Kopf gehen.
Alles treibt die Geschichte vor sich her. Seine Bildsprache ist exzellent und abwechslungsreich. Die Kameraführung ist ausgewogen und seine Panel-Aufteilung unterstreicht das was passiert und welche Stimmungslage benötigt wird. Viele seiner Panels könnten für sich genommen als Filmplakate eingesetzt werden. Und beim Umblättern auf die folgende Seite erwartet uns … Werbung!
Aber was für Werbung. Oberflächlich betrachtet könnte sie aus den Zeitschriften der Zeit herausgerissen worden sein. Bei genauerem Hinsehen allerdings entdecken wir die Liebe zum Detail und zu einem Humor, der uns nahe legt, bald wieder zu dieser Seite zurückzukehren. Wir sollten sie intensiver begutachten. Ja, bald, bald kommen wir zurück, aber erst wollen wir wissen, wie die Handlung weitergeht. Und das ist der Vorteil des Comics gegenüber den Fernsehserien der 80er. Hier können wir zurückkehren.
Irgendwann war ich am Ende angelangt. Am Ende des Comics, am Ende eines ersten, wilden Ritts und an der Nahtstelle zum 2. Akt. Und? Was habe ich wohl nach dem Lesen als erstes getan? Na, was wohl? Ich habe mir den zweiten Band bestellt. Das sind die Momente, in denen man sich fragt, warum man sie nicht sofort zusammen geordert hat und in denen ich froh war, dass es schon nach 2021 war und es diesen Band schon gab. Ich wollte nicht erst x Jahre auf die Fortsetzung warten müssen.
Bei der Sterne-Bewertung des Humors tue ich mich allerdings etwas schwer. In der Geschichte selbst muss man ihn schon suchen, auch wenn Jack Ramirez manchmal etwas kindlich naiv durchs Leben zu gehen scheint. Im restlichen Album hingegen, springt er dich wie Hobbes aus Calvin & Hobbes von Bill Watterson hinterrücks an: auf jeder Seite, in der die Werbung der 80er persifliert wird, in der Beschreibung des Vacuumizer 2000 zu Beginn und am Ende des Bandes sowie bei den vielen Anspielungen und Referenzen zur Pop-Kultur der 80er Jahre. Sie alle sind großartig und für sich genommen ein großer Spaß.
Alles in Allem handelt es sich bei diesem Comic um ein wirklich außergewöhnliches Werk des Franzosen Nicolas Petrimaux. Die Geschichte ist wie erwähnt auf drei Bände / Akte angelegt. Der erste ist 2019 erschienen (2018 im französischen Original bei Editions Glenat), der zweite 2021 (2020 im französischen Original), der dritte … nun ja, auf DEN warten wir tatsächlich immer noch.
Nach Aussage von Petrimaux hatte der Startband einen so großen Erfolg, dass die „schnelle“ Veröffentlichung des 2. Aktes ihn sehr ausgelaugt hat. Aber: der 3. Akt, die Auflösung, der Schluss, soll kommen und so gut wie die beiden ersten sein! Hoffen wir also das Beste.
Petrimaux scheint ein Perfektionist zu sein, denn er möchte gern auch an den vielen Marketing-Events teilhaben und sämtliche Marketing-Gadgets selber herstellen. Das braucht natürlich alles seine Zeit und er weiß selbst noch nicht, wann der 3. Akt fertig sein wird. Das Team zu vergrößern, um zügiger voranzukommen, scheint für ihn dabei aber keine Option zu sein. [2]
Im Hintergrund läuft schon Musik: „Misirlou“ von Dick Dale And The Del Tones. Darum kann es hier also nur heißen: Danke und „Jack will be back … “
SHOOTING RAMIREZ 1. Akt