Manchmal wollen wir der Realität entfliehen. Wir alle wollen das. Die einen mehr, die anderen weniger. Wir spielen Videospiele, lesen Bücher, schauen Filme. Die großen Elektronikhersteller unserer Zeit versorgen uns mit Mobilfunkgeräten, VR-Brillen und anderen Gadgets. Was wäre, wenn wir in einigen Jahren einen Schritt weiter wären? Wenn wir selbst – ohne zusätzliche Geräte – mit einem neurologischen Interface in die Struktur eingebunden wären?
Zwei Größen der neunten Kunst haben sich zu genau diesem Thema zusammengetan: Scott Snyder und Francis Manapul. Sie haben einen Comic geschaffen, der sich irgendwo zwischen dystopischem Noir-Krimi, Science-Fiction-Drama und gesellschaftskritischer Vision fließend hin und her bewegt:
In naher Zukunft sind Mensch und Internet eins geworden. Dank neurologischer Interfaces können wir das Aussehen der Welt an unsere eigenen Vorlieben anpassen, zu jeder Zeit und ununterbrochen. Extravaganter Steampunk? Zombie-Apokalypse? Schwarz-weiße Art Déco? Dank der Schleier-Technologie alles kein Problem! Sam Dunes ist Privatdetektiv und einer der letzten Menschen, die im Clear-Modus leben, ohne Schleier in der tristen Realität des vollvernetzten San Francisco. Der Selbstmord seiner Ex-Frau Kendra könnte der Schicksalsschlag sein, der Dunes endgültig in den Abgrund reißt. Doch dann erreicht ihn eine letzte Nachricht von ihr: »Ich wurde ermordet« …*
Die Geschichte von CLEAR spielt in einer nahen Zukunft, in der Menschen mittels eines Netzwerks namens „Veil“ (Schleier) ihre Wahrnehmung der Realität selbst beeinflussen können. Durch neuronale Filter kann jeder seine Umgebung so sehen, wie er oder sie es möchte – sei es als idyllisches Märchenland, als Retro-Filmkulisse oder chaotische Albtraumwelt. In dieser Gesellschaft der manipulierten Wahrnehmungen gibt es nur wenige, die sich bewusst für eine „klare“ Sicht auf die Realität – den CLEAR-View – entscheiden.
Einer davon ist der Privatdetektiv Sam Dunes, ein klassischer Hard-Boiled-Charakter. Als Dunes‘ ehemalige Geliebte Kendra plötzlich stirbt, wird er in eine Verschwörung verwickelt, die weit über einen simplen Kriminalfall hinausgeht. Während er tiefer in die Machenschaften der Veil-Technologie eindringt, stößt er auf eine Wahrheit, die nicht nur sein eigenes Weltbild erschüttert, sondern auch die gesamte Gesellschaft infrage stellt.
Sam Dunes ist eine klassische Noir-Figur. Er ist ein desillusionierter Einzelgänger mit einem Trauma aus der Vergangenheit. Doch im Verlauf der Geschichte wird deutlich, dass er nicht nur ein abgebrühter Ermittler ist, sondern auch jemand, der sich weigert, die Realität durch eine rosarote Brille zu sehen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Sein Charakter ist vielschichtig und entwickelt sich stetig weiter, besonders in den Momenten, in denen er mit der Wahrheit über seine verlorene Liebe konfrontiert wird.
Die Geschichte entwickelt sich mit hohem Tempo, während die Autoren klassische Noir-Elemente geschickt mit Cyberpunk-Ästhetik und modernen Thriller-Strukturen kombinieren. Snyder ist bekannt für seine dichten, spannungsgeladenen Erzählungen und CLEAR bildet hier keine Ausnahme. Die Handlung folgt weitgehend den Strukturen eines klassischen Noir-Krimis (ein abgebrühter Ermittler, eine Femme fatale, dunkle Geheimnisse und die allgegenwärtige Korruption). Doch anstatt sich mit einer simplen Mordgeschichte zu begnügen, erweitert Snyder das Konzept mit einer tief gehenden Reflexion über Wahrheit, Manipulation und die menschliche Sehnsucht nach Eskapismus.
Die Handlung bleibt durchgängig spannend, auch wenn einige der Twists vorhersehbar sind. Dennoch gelingt es Snyder, die zentralen Themen intelligent zu verweben, sodass die Geschichte uns zum Nachdenken anregt. Seine Figuren sind vielschichtig und glaubwürdig.
Besonders gelungen ist der innere Monolog von Sam Dunes, der – auch im Stil eines Noir-Films – als stilistisches Mittel eingesetzt wird, um Einblick in seine Psyche und seine ambivalente Sicht auf die Welt zu geben. Sein CLEAR-View ist eine Form des Widerstandes gegen die verzerrte Wahrnehmung der Gesellschaft und deren gestiegene Beeinflussbarkeit.
Auch die Nebenfiguren sind solide geschrieben, selbst wenn sie gelegentlich in archetypische Rollenbilder verfallen. Die Femme fatale, die zwielichtigen Auftraggeber, die allgegenwärtige Bedrohung durch eine übermächtige Organisation – all das sind bekannte Versatzstücke des Genres, die Snyder jedoch gekonnt mit seinem eigenen erzählerischen Stil auflädt. Besonders interessant ist die Frage, inwieweit sich die Charaktere ihrer eigenen Manipulation bewusst sind – ein Motiv, das immer wieder für emotionale und philosophische Tiefe sorgt.
Manapul’s Artwork ist ohne Frage eines der – wenn nicht DAS – Highlight(s) von CLEAR. Der Künstler, bekannt für seine Arbeit an THE FLASH und den DETECTIVE COMICS, kombiniert in diesem Werk seinen dynamischen Stil mit einer außergewöhnlichen Farbgebung und einer ansprechenden, innovativen Seitenkomposition. Er schafft es, dass die Welt von CLEAR sowohl futuristisch als auch vertraut wirkt. Er nutzt die visuelle Darstellung der „Veil“-Technologie, um atemberaubende Kontraste zwischen Illusion und Realität (gesehen von Dunes) zu schaffen, insbesondere dann wenn die verschiedenen Wahrnehmungsebenen aufeinandertreffen.
Er spielt mit Farbspektren, Lichtstimmungen und surrealen Elementen, um die Verlorenheit der Figuren in ihrer eigenen Welt der Illusionen darzustellen. Dies verleiht dem Comic nicht nur eine unverwechselbare Optik, sondern verstärkt auch die thematische Ebene der Geschichte.
Die Panel-Komposition ist dynamisch und kreativ. Manapul nutzt unkonventionelle Anordnungen und überlappende Bildelemente, um Bewegung und Rhythmen zu erzeugen. Dies sorgt dafür, dass selbst ruhige Szenen eine gewisse Spannung und Energie behalten. Die Actionszenen wiederum sind rasant und angemessen choreografiert.
Ein weiterer Aspekt, der CLEAR visuell so herausragend macht, ist der bewusste Einsatz von Farbkontrasten. Während die Realität oft in kühlen, fast sterilen Tönen gehalten ist, explodieren die verschleierten Welten in einem Spektrum aus surrealen, oft so übersteuerten Farben, dass man davon blind werden könnte.
Besonders spannend ist, wie Manapul dabei mit Licht und Schatten arbeitet. In den Noir-typischen Szenen dominieren harte Schatten und monochrome Farbverläufe, während die Welt der digitalen Illusion in knalligen Neonfarben leuchtet. Diese Mischung aus klassischer Noir-Ästhetik und cyberpunkartiger Farbdramaturgie macht CLEAR zu einem visuellen Ausnahmewerk.
Snyder hat bereits mit anderen Werken bewiesen, dass er ein Meister des düsteren Erzählens ist. CLEAR reiht sich nahtlos an diese Werke an, indem es ebenfalls eine vielschichtige, düstere Geschichte erzählt, die sich mit existenziellen Themen auseinandersetzt.
Manapul wiederum hat mit THE FLASH gezeigt, dass er Geschwindigkeit und Bewegung visuell meisterhaft umsetzen kann. In CLEAR beweist er zudem, dass er auch eine viel ruhigere, aber nicht weniger eindrucksvolle Bildsprache beherrscht.
Die Serie wurde ursprünglich als Digital-First-Titel über das digitale Label ComiXology Originals veröffentlicht und später auch als gedruckte Edition herausgebracht. Trotz kleinerer Schwächen – wie den vorhersehbaren Twists und einigen klischeehaften Nebenfiguren – ist CLEAR ein Comic, der sowohl Fans von düsteren Kriminalgeschichten als auch Liebhaber visuell eindrucksvoller Science-Fiction begeistern dürfte.
Wer sich für Ridley Scott’s Blade Runner mit Harrison Ford interessiert hat, wird in CLEAR eine vergleichbar gute Story finden. Auch wenn Blade Runner im Los Angeles des Jahres 2019 (!) statt in San Francisco des Jahres 2052 spielt und SF über die Veil-Oberfläche nicht so dreckig und herunter gekommen aussieht wie L.A. im Film, wird der Betrachter die eine oder andere Gemeinsamkeit entdecken.
Zu dem Comic gibt es also viel Gutes zu berichten. Und doch frage ich mich, ob dem Werk – vor dem Hintergrund der atemberaubenden Illustrationen – das größere Alben- statt des kleineren Bookformats nicht doch gut getan hätte…
CLEAR
© Splitter-Verlag| Hardcover (im Bookformat) | 160 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★★☆
Zeichnungen: ★★★★★
Lettering: ★★★☆☆
Humor: ★★☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★☆
ISBN: 978-3-98721-309-0
Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.
Fussnoten:
* Verlagsbeschreibung