ETERNAUTA ist ein Meilenstein des lateinamerikanischen Comics. Ein Mann in einem Taucheranzug, mit Tauchermaske auf dem Gesicht und einem Gewehr über der Schulter, kommt auf dem Cover auf Dich zu. Es ist auf seine Weise surreal. Wie die Geschichte im Inneren und die Geschichte hinter dem Comic.
Buenos Aires, 1963: Juan Salvo sitzt mit seiner Familie und Freunden beim Kartenspiel, als es zu schneien beginnt. Der Schnee, der auf die Stadt fällt, ist tödlich, sein Gift dringt durch jede Ritze, wer mit ihm in Berührung kommt, stirbt sofort. Außerirdische haben Buenos Aires erobert, mit Hilfe des Schnees, Rieseninsekten und versklavten Wesen eines anderen Planeten töten SIE die Bewohner der Stadt oder verwandeln sie in Robotermenschen. Juan Salvo und seine Freunde gehören zu den wenigen Überlebenden. Sie entschließen sich, gehen den übermächtigen Feind in den Kampf zu ziehen. Ein Kampf, bei dem Salvo nicht nur sein eigenes Leben aufs Spiel setzt – sondern auch das seiner Familie…*
„El Eternauta“ von Héctor Germán Oesterheld und Francisco Solano López ist nicht nur ein Klassiker der argentinischen Comicgeschichte. Es ist auch ein Werk von universeller Strahlkraft. Der Comic erschien zwischen 1957 und 1959 in 106 Folgen in der Zeitschrift „Hora Cero“ und hat sich als Allegorie auf politische Unterdrückung, als Plädoyer für Solidarität und als künstlerische Innovation tief in das kollektive Gedächtnis Lateinamerikas eingebrannt. Gleichzeitig ist die Geschichte des Comics untrennbar mit dem Schicksal seines Autors, seiner Familie und der Tragödie der argentinischen Junta-Diktatur verbunden.
Die Geschichte
Im Zentrum von ETERNAUTA steht Juan Salvo, ein Familienvater, der gemeinsam mit Freunden in Buenos Aires beim Kartenspiel von einer tödlichen Invasion überrascht wird. Der Angriff beginnt mit einem giftigen Schneefall, der alles Leben auslöscht, das ihm ungeschützt begegnet. Salvo, seine Familie und eine kleine Gruppe Überlebender haben Glück. Durch gemeinsame Anstrengungen gelingt es ihnen, sich schützende Anzüge zu erstellen und sich lebensnotwendige Dinge zu beschaffen. Erst später stellt sich heraus, dass der giftige Schneefall in Wahrheit der Angriff einer außerirdischen Spezies ist, die aggressiv gegen den letzten menschlichen Widerstand vorgeht.
Um Salvo herum entsteht eine Widerstandsgruppe aus den wenigen, die den Angriff zufällig überlebt haben. Diese Gruppe zieht nun los, um zu überleben und den – aussichtslosen – Kampf gegen die Invasoren aufzunehmen. Ähnlich wie in modernen, filmischen Endzeitserien wechseln die Mitglieder der Gruppe häufiger, weil es Tote oder neu hinzugekommene Verbündete gibt.
Zum Schluss ist Salvo der einzige aus seiner ursprünglichen Gruppe, der noch übrig ist. Er ist zum ewig Reisenden geworden, zum „El Eternauta“, der letztendlich wieder in seiner Heimatstadt landen wird.
Eine neue Erzählstruktur
Oesterheld betritt mit seiner Geschichte Neuland. Er nutzt eine Rahmenhandlung, in der ein Comicautor (!) Besuch vom „Eternauten“ (Salvo) erhält und der ihm seine Geschichte erzählt. Wobei der Begriff „Besuch erhalten“ viel zu vereinfacht ist. Der „Eternaut“ erscheint dem Autor aus dem Nichts, was der Geschichte eine zusätzliche Metaebene hinzufügt.
Zur damaligen Zeit war die Verwendung von Metaebenen ungewöhnlich und wurde erst viel später von international bekannten Autoren wie Grant Morrison (All-Star Superman, Heavy Metal Magazin) oder Cary Bates (The Flash, Superman) aufgegriffen.
Der Story-Arc entwickelt sich als fortlaufende Serie von Cliffhangern, in der auf jede überstandene Gefahr eine weitere, noch größere Bedrohung folgt. Und doch ist die Geschichte weit mehr als nur ein Science-Fiction-Abenteuer.
Sie ist eine Parabel auf den Widerstand einer Zivilgesellschaft gegen übermächtige, anonyme Mächte. Sie ist ein Plädoyer für Gemeinschaft und Menschlichkeit in Zeiten einer Katastrophe.
Der Comic ist dabei keine einfache Heldenerzählung. Juan Salvo ist kein Superheld, sondern gewinnt seine Stärke aus der Solidarität mit anderen. Auch sind die Überlebenden keine Einzelgänger, sondern eine Schicksalsgemeinschaft, deren Zusammenhalt immer wieder auf die Probe gestellt wird und die nur durch das geschaffene Netzwerk überhaupt lebens- bzw. überlebensfähig sind..
Die Charaktere
Die Figur des Juan Salvo ist das emotionale Zentrum des Comics. Als Familienvater und einfacher Bürger steht er für das „kollektive Heldentum“, welches Oesterheld als Gegenentwurf zum erstarkenden Superhelden-Mythos der US-Comics entwickelt hat. Dort die wahrlich einsamen Helden wie Superman, Batman oder die Green Lantern, hier die Mitglieder der sozialen Gemeinschaft, die zusammenstehen und sich gegenseitig stützen.
Salvo ist verletzlich, zweifelnd, aber auch entschlossen. Seine Charakter-Entwicklung ist von Verlust geprägt, von wiederkehrender Hoffnung und der ständigen Suche nach seiner Familie. Und doch ist seine Suche von Einsamkeit geprägt. Er wird zum „ewigen Reisenden“ zwischen den Dimensionen, zum „El Eternauta“. In gewisser Weise gleicht er hierin dem Batman, der ja als Einziger des DC-Universums keine Superkräfte besitzt und sich nur auf seine Intelligenz und erlernte Fähigkeiten verlassen kann.
Auch die Nebenfiguren sind keine bloßen Statisten. Die Freunde, Nachbarn und Mitstreiter spiegeln unterschiedliche Facetten der argentinischen Gesellschaft wider. Wir finden Mut, Angst, Verrat und Opferbereitschaft in ihren Reihen. Die Dynamik der Gruppe, das Aushandeln von Führung, Vertrauen und Misstrauen, wird mit großer psychologischer Präzision erzählt. Oesterheld gelingt es, in wenigen Strichen glaubwürdige Charaktere zu zeichnen, die für die Zerbrechlichkeit sozialer Bindungen in Extremsituationen stehen. Und er nimmt sich Zeit, die jeweilige Figurenentwicklung zu begleiten.
Klassische Präzision und experimentelle Abstraktion
Demgegenüber prägt Francisco Solano López die Urfassung von ETERNAUTA mit einem Stil, der sich an den internationalen Standards der 1950er Jahre orientierte, aber bereits eine spezifisch argentinische Handschrift erkennen lässt. Wir sehen strenge, oft fast abstrakte Schwarz-Weiß-Panels, die viel Raum für Leere und Andeutung lassen. Die Stadtansichten von Buenos Aires sind skizzenhaft, beinahe gespenstisch und verstärken das Gefühl von Isolation und Bedrohung.
Die Panel-Struktur folgt einer gemächlichen Präzision, die den Fortsetzungscharakter des ursprünglichen, in „Hora Cero“ erschienenen Comics unterstreicht. Die Dramaturgie lebt von virtuosen Cliffhangern, die das Lesetempo bestimmen und die Spannung hochhalten. Besonders auffällig ist die Reduktion auf das Wesentliche. Wo nordamerikanische Comics oft in opulenten Details und knalligen Farben schwelgen, setzt López auf Andeutung und Atmosphäre.
López Panel-Struktur entspricht den Sehgewohnheiten seiner Zeit. Durch die bewusste Reduktion auf das Wesentliche, insbesondere in den Schwarz-Weiß-Panels, entsteht eine bedrückende Atmosphäre der Leere, der Isolation und der Bedrohung, die ein Gefühl kollektiver Ohnmacht – auch in Zeiten politischer Repression – widerspiegelt. Die abstrahierende Darstellung der Stadtlandschaften und Figuren lenkt den Blick weg fort von individuellen Details, hin zu universellen Erfahrungen von Angst, Zusammenhalt und Widerstand.
Das Lettering bleibt schlicht, ist dabei aber effizient. Die erzählerischen Textpassagen sind umfangreich und verhindern, dass sich der Leser hastig durch die Geschichte durchblättert. Auf diese Weise unterstreichen sie das Pacing der bedrückenden Handlung. Nichts geht wirklich schnell – mit Ausnahme des Schneefalls zu Beginn – und alles braucht in diesem Comic seine Zeit.
Neuinterpreatation von Alberto Breccia
Eine spätere Neuinterpretation der Geschichte von 1969, gezeichnet von Alberto Breccia, wird künstlerisch noch eins draufsetzen: Breccia experimentiert mit Tusche, Wischtechnik und Collagen, setzt auf Schlaglichter und Stimmungen statt auf lineare Erzählung. Dieser Stilbruch verstärkt die Ästhetik und deutet – durch zeichnerische Veränderung – die zunehmende Politisierung Oesterhelds und die gesellschaftlichen Umbrüche Argentiniens an.
Oesterheld’s Schicksal
Die Entstehung und Rezeption von ETERNAUTA sind leider untrennbar mit dem Leben Héctor Germán Oesterheld’s und seiner Familie verbunden. Ursprünglich als spannender Science-Fiction-Comic konzipiert, wurde das Werk im Nachhinein vielfach als prophetische Allegorie auf die Schrecken der kommenden argentinischen Militärdiktatur gelesen.
Oesterheld selbst radikalisierte sich im Laufe der 1960er und 70er Jahre politisch, engagierte sich im Widerstand gegen die Diktatur und wurde – ebenso wie seine vier Töchter – von den Militärs verschleppt und 1977 (wahrscheinlich) ermordet. Genaueres ist bis heute nicht bekannt.
Im „ETERNAUTA II“, der nur fragmentarisch gebliebenen Fortsetzung aus den späten 1970er Jahren, verarbeitete Oesterheld explizit die Erfahrungen von Repression und Verlust.
Der Comic ETERNAUTA wurde zum Symbol für den Widerstand gegen die Diktatur, für die „Desaparecidos“ und die endlose Suche nach den verschwundenen Angehörigen. Der Mythos des „Eternauten“ – des ewigen Suchenden und Widerständigen – wurde in Argentinien so zur Chiffre für das kollektive Trauma eines ganzen Landes.
Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Comics
ETERNAUTA steht in einer Reihe mit anderen bedeutenden Werken der lateinamerikanischen Comicgeschichte. Speziell hebt er sich durch seine politische und ästhetische Radikalität deutlich ab. Während viele brasilianische und mexikanische Comics der 1950er und 1960er Jahre auf Abenteuer, Humor oder Folklore setzten, entwickelte sich in Argentinien eine Tradition der engagierten, oft düsteren Graphic Novel, die gesellschaftliche Missstände thematisiert. Humor suchen wir hier vergebens.
Ein Vergleich mit „MORT CINDER“ (ebenfalls von Oesterheld, gezeichnet von Breccia) zeigt, wie sehr der argentinische Comic von existenziellen Themen und einer pessimistischen Weltsicht geprägt ist.
Beide Werke teilen die Faszination für das Überleben in einer feindlichen Welt, für die moralische Integrität des Einzelnen und für die Macht der Erinnerung.
Kult-Comic und Symbol
Die Wirkung von ETERNAUTA reicht weit über die Comic-Szene hinaus. In Argentinien wurde der Comic zum Symbol des Widerstands gegen die Diktatur und der Suche nach Gerechtigkeit für die „Verschwundenen“. Die Figur des „El Eternauta“ ist heute Teil der politischen Ikonografie: Bei Demonstrationen für Menschenrechte taucht das Bild des „Tauchers“ immer wieder auf.
Auch international wird ETERNAUTA als eines der bedeutenderen Werke der Comicgeschichte gewürdigt. Er gilt als Beispiel für die Möglichkeiten des Mediums, gesellschaftliche Traumata zu verarbeiten und kollektive Erinnerungen zu bewahren.
Fazit
ETERNAUTA ist mehr als ein Science-Fiction-Comic. Es ist ein universelles Werk über Angst und Hoffnung, Verlust und Solidarität, individuelle und kollektive Verantwortung. Das Schicksal seines Autors verleiht ihm eine zusätzliche Dimension, denn ETERNAUTA ist nicht nur Fiktion. ETERNAUTA ist Teil der realen Geschichte eines ganzen Landes. Das Werk ist ein bleibendes Symbol für Menschlichkeit im Angesicht des Unmenschlichen.
Die Geschichte des „El Eternauta“ endet mit der Niederlage des „Helden“ Juan Salvo. Er ist dazu verdammt, auf ewig seine Familie zu suchen. Etwas, mit dem sich immer noch sehr viele Argentinier identifizieren können.
Für ihre Bearbeitung ähnlicher Einzelschicksale in Form eine Graphic Novel ist Ulli Lust mit ihrem Band „Die Frau als Mensch“ vor Kurzem mit dem Sachbuchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zurecht ausgezeichnet worden. Sie reiht sich damit – wie schon Hector German Oesterheld – in die Reihe derjenigen ein, die die sequenzielle Erzählung zur mehr nutzen als nur zur Unterhaltung.
Eigentlich war ich im Buchladen, um nach etwas Aktuellem, Neuerschienen Ausschau zu halten. Stattdessen lag dieses Album vor mir, dass mich geradezu anbettelte, es mitzunehmen. Trotz einer, den heutigen Seh- und Lesegewohnheiten stark entgegen stehenden Präsentation der Geschichte zog mich die Handlung unmittelbar in ihren Bann. Also nahm ich das Album mit …
ETERNAUTA ist keine leichte Kost, ganz im Gegenteil. Aber sowohl die zeichnerischen Mittel als auch Osterheld’s Art, die Geschichte zu erzählen, hatten mich fasziniert.
ETERNAUTA
© Avant-Verlag| Hardcover | 392 Seiten | Schwarz-Weiss (Querformat)
Storyline: ★★★☆☆
Zeichnungen: ★★★★☆
Lettering: ★★★☆☆
Humor: ☆☆☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★☆
ISBN: 978-3-945034-35-4
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Fussnote
* Verlagsbeschreibung