Mit HABEMUS BASTARD liefern Jacky Schwartzmann (Szenario) und Sylvain Vallée (Zeichnungen) einen Comic ab, der bereits mit seinem Titel einen augenzwinkernden Tabubruch zelebriert: „Habemus …“, nein, nicht „Papam“!
Das kürzlich bei Splitter erschienene Album verspricht nicht weniger als eine respektlose, wendungsreiche und komisch-düstere Achterbahnfahrt durch die Untiefen der französischen Provinz und der menschlichen Seele. Wer Vallée von „Es war einmal in Frankreich“, „Antananarivo“ oder „Katanga“ kennt, weiß, dass hier nicht nur zeichnerisch, sondern auch erzählerisch auf höchstem Niveau gearbeitet wird. Doch was macht HABEMUS BASTARD tatsächlich aus? Wie gelingt der Spagat zwischen Thriller, Komödie und Gesellschaftssatire? Und wie viel „Bastard“ steckt wirklich in diesem Comic? Zeit für eine tiefer gehende, aber nicht bierernste Analyse.
Als Auftragsmörder kann man sich keine Fehler erlauben. Nicht mal einen einzigen. Lucien weiß das, und er weiß deshalb auch, dass sein Boss ihm nicht verzeihen wird. Er könnte alles Mögliche versuchen, um seine Haut zu retten: In ein Flugzeug steigen, um im Ausland unterzutauchen, der Fremdenlegion beitreten, sein Gesicht chirurgisch verändern… Aber er findet etwas viel Besseres: eine Soutane. Denn wer würde Lucien schon als Priester verkleidet in einem verschlafenen Nest im Jura suchen?*
Ein Auftragsmörder als Priester: Die Ausgangslage
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Lucien, ein Ausputzer für einen kriminellen Lyoneser Clan, der einen folgenschweren Fehler begeht. Da er weiß, dass sein Boss keine Gnade kennt, bleibt ihm nur die Flucht. Doch statt sich ins Ausland abzusetzen oder sich die Identität chirurgisch neu gestalten zu lassen (dafür braucht man schließlich Geld), nutzt er den Zufall und entscheidet sich für eine Tarnung der besonderen Art: Er schlüpft in eine Soutane und taucht als vermeintlicher Priester in einem verschlafenen Dorf im französischen Jura unter: Saint- Claude, die nationale Metropole für Tabakpfeifen und der Diamantschleiferei.
Was wie eine klassische Gangster-auf-der-Flucht-Geschichte beginnt, entwickelt sich schnell zu einer bitterbösen Farce über das Landleben, den Glauben und die Abgründe der menschlichen Natur. Lucien muss sich nicht nur mit neugierigen Dorfbewohnern, sondern auch mit seiner eigenen Vergangenheit und einem immer enger werdenden Netz aus Lügen auseinandersetzen. Dabei bleibt kein Klischee unberührt, kein Fettnäpfchen ausgelassen – und doch ist HABEMUS BASTARD weit mehr als eine bloße Groteske.
Storytelling: Tempo, Timing, Tonalität
Jacky Schwartzmann versteht sein Handwerk. Es gelingt ihm, eine klassische Noir-Prämisse gekonnt mit Elementen der schwarzen Komödie und des Thrillers zu verweben. Die Geschichte ist in einem straffen Rhythmus erzählt, der weder Leerlauf noch überflüssige Abschweifungen kennt. Schon der Einstieg ist ein Paradebeispiel für effizientes Storytelling: Ohne Umschweife wird Luciens prekäre Lage etabliert, die Fluchtmotivation wird glaubhaft und nachvollziehbar. Die Handlung entwickelt sich in einer Mischung aus Spannung und Situationskomik, wobei das Tempo immer wieder geschickt variiert wird.
Die Erzählstruktur profitiert von einer klaren Kapiteleinteilung und pointierten Dialogen, die oft mit subtilem, manchmal auch brachialem Humor gewürzt werden. Besonders gelungen ist die Balance zwischen Spannung und Komik: Während Lucien einerseits mit der ständigen Gefahr der Enttarnung lebt, sorgen die skurrilen Eigenheiten der Dorfbewohner immer wieder für absurde Situationen. Die Autor spielt gekonnt mit den Erwartungen seiner Leserschaft indem er klassische Thriller-Elemente (Verfolgung, Verrat, Identitätswechsel) mit satirischen Brechungen versieht. So entsteht ein Wechselbad der Gefühle, das nie ins Alberne abgleitet sondern stets auf hohem erzählerischen Niveau bleibt.
Auffällig ist zudem der Einsatz von Cliffhangern und überraschenden Wendungen, die den Leser immer wieder aufs Neue in die Handlung ziehen. Die Geschichte bleibt bis zum Schluss (relativ) unvorhersehbar, ohne dabei konstruiert zu wirken. Die Rückblenden und Perspektivwechsel sind sparsam, aber effektiv eingesetzt und sorgen für zusätzliche Tiefe. Insgesamt überzeugt die Erzählstruktur durch ihre Klarheit, ihren Witz und ihre dramaturgische Raffinesse – ein echtes Lehrstück für modernes Comic-Storytelling.
Figuren: Antihelden und Dorfexistenzen
Im Zentrum steht Lucien, ein Antiheld par excellence. Schwartzmann gelingt es, ihn trotz seiner kriminellen Vergangenheit als vielschichtige Figur zu zeichnen. Lucien ist kein eiskalter Killer, sondern ein Mensch mit Ängsten, einigen – wenigen – Zweifeln und einer gehörigen Portion Selbstironie. Seine Entwicklung vom abgebrühten Auftragsmörder zum (scheinbar) geläuterten Landpfarrer ist nicht nur glaubwürdig, sondern auch von einer feinen, oft melancholischen Komik durchzogen. Besonders reizvoll ist, wie Lucien mit seiner neuen Rolle hadert und dabei immer wieder an seine eigenen Grenzen stößt. Er ist kein Kirchgänger, kennt sich mit den Gepflogenheiten seines Amtes nicht aus und bleibt ambivalent: mal sympathisch, mal abstoßend, aber immer faszinierend.
Auch die Nebenfiguren sind mehr als bloße Staffage. Die Dorfbewohner – vom kollegialen Pfarrer der Nachbarpfarrei über die zumeist alten Kirchgänger bis hin zur aufgeweckten Messdienerin (ja, ein Mädchen!) – sind liebevoll überzeichnet, ohne ins Karikaturhafte abzurutschen. Jeder von ihnen bringt eigene Geheimnisse und Abgründe mit, was das Dorf zu einer Art Mikrokosmos der französischen Gesellschaft macht. Besonders gelungen ist das Zusammenspiel zwischen Lucien und den Dorfbewohnern, das immer wieder für überraschende Dynamiken sorgt. Die Figuren sind authentisch und nie bloß Mittel zum Zweck, sondern tragen aktiv zur Entwicklung der Handlung bei.
Trotz aller Überzeichnung wirken sie glaubwürdig, ihre Handlungen sind nachvollziehbar. Schwartzmann und Vallée gelingt es, selbst Nebenfiguren mit wenigen Strichen Tiefe zu verleihen. Die Dialoge sind pointiert, oft bissig und verraten viel über die jeweiligen Charaktere. So entsteht ein Ensemble, das weit über die üblichen Genre-Klischees hinausgeht und dem Comic eine besondere emotionale Resonanz verleiht.
Aktuell ist bereits absehbar, dass es zu einem Clash der Kulturen kommen wird, wenn die Lyoneser Gangster auf eben diese Dorfbewohner treffen werden.
Zeichnungen: Vallées visuelles Erzählen auf Top-Niveau
Sylvain Vallée zählt nicht umsonst zu den renommiertesten Comic-Künstlern Frankreichs. Mit HABEMUS BASTARD liefert er erneut eine weitere Visitenkarte seines Könnens ab. Sein Stil ist realistisch, aber nie steril, detailverliebt, aber stets im Dienst der Geschichte. Besonders auffällig ist die Virtuosität, mit der Vallée Stimmungen einfängt: Die dörfliche Idylle des Jura wird ebenso überzeugend inszeniert wie die düsteren Schatten der städtischen Unterwelt. Die Farbgebung ist dank der Belgierin Elvire de Cock nuanciert und unterstützt die Atmosphäre – mal warm und einladend, mal kalt und bedrohlich.
Vallée versteht es meisterhaft, Mimik und Gestik seiner Figuren einzusetzen, um Emotionen zu transportieren. Luciens innere Zerrissenheit, die Skepsis der Dorfbewohner, die unterschwellige Bedrohung durch die Vergangenheit – all das wird durch die Zeichnungen unmittelbar erfahrbar. Hervorzuheben ist besonders die Liebe zum Detail: Sei es das Interieur der Dorfkirche, die verschlungenen Gassen oder die Gesichter der Protagonisten – jeder Bildausschnitt ist sorgfältig komponiert und trägt zur Erzählung bei. (Die Zeichnungen versprühen zudem erhebliches Lokalkolorit, wie z.B. die überdimensionierte Pfeife auf Seite 11.)
Die Seitenaufteilung ist dynamisch, aber nie unübersichtlich. Vallée spielt gekonnt mit Panelgrößen und Perspektivwechseln, um Tempo und Dramatik zu steuern. Actionsequenzen sind ebenso überzeugend inszeniert wie ruhige, dialog-lastige Szenen. Die Bildsprache ist dabei stets klar und leserfreundlich, was den Comic auch für Einsteiger zugänglich macht.
In französischen Rezensionen wird immer wieder die „cineastische“ Qualität von Vallées Zeichnungen hervorgehoben: Die Bildkomposition erinnert oft an Filmszenen, die Kameraeinstellungen sind abwechslungsreich und tragen dazu bei, den Leser ins Buch hineinzuziehen. Gleichzeitig bleibt Vallée seinem eigenen Stil jedoch treu und vermeidet modische Effekthascherei.
Diese Elemente machen HABEMUS BASTARD zu einem Comic, der sowohl visuell als auch erzählerisch auf höchstem Niveau überzeugt und sich deutlich von Genre-typischen Werken abhebt.
Schwarzer Humor trifft soziale Satire
Humor spielt in HABEMUS BASTARD eine zentrale und vielschichtige Rolle. Der Comic ist geprägt von einem unbändig witzigen und herrlich respektlosen Ton. Der zieht sich durch die gesamte Erzählung. Die Ausgangssituation – ein abgebrühter Auftragsmörder tarnt sich als Priester in einem verschlafenen Dorf – ist bereits eine humorvolle Umkehrung klassischer Thriller-Motive und sorgt für zahlreiche absurd komische Momente.
Der Humor ist dabei nicht bloß Beiwerk, sondern ein erzählerisches Mittel, um die Spannung zu brechen, die Figuren zu charakterisieren und gesellschaftliche Themen satirisch zu beleuchten. Besonders auffällig ist der rabenschwarze, oft respektlose Witz, mit dem sowohl die Hauptfigur als auch die skurrilen Dorfbewohner gezeichnet werden. So hat beispielsweise die Jesus-Figur in der Kirche ein Loch im Schädel, das verdächtig nach einem Kopfschuss aussieht und Lucien drastisch daran erinnert, in welcher Situation er sich befindet.
Immer wieder entstehen aus dem Zusammenprall von Luciens krimineller Vergangenheit und seiner neuen Rolle als Geistlicher groteske Situationen, die mit feiner Ironie und bissigem Spott erzählt werden. Gleichzeitig verhindert der Humor, dass die Geschichte ins Klischeehafte oder rein Dramatische abgleitet. Stattdessen entsteht eine eigenwillige Mischung aus Spannung, Komödie und Gesellschaftssatire, die dem Comic seinen unverwechselbaren Ton verleiht. Der Witz ist dabei nie plump, sondern lebt von pointierten Dialogen, überraschenden Wendungen und einer respektlosen Lust an der Übertreibung.
Ein (kleiner) Makel: Der Einstieg ist holprig
So gut die Geschichte auch ist, (mindestens) eine Schwachstelle hat sie doch: Nachdem Lucien den Fehler begangen hat und der Neffe seines Auftraggebers dabei tragisch ums Leben kommt, lässt er a) die Prostituierte – also die Zeugin – am Leben und b) die Leiche in der Gasse zurück und flieht Hals über Kopf aus der Stadt. In einer Umgebung wie Lyon, in der verschiedene kriminelle Gangs um die Vorherrschaft kämpfen, kann eine Leiche nicht unbemerkt bleiben. Schon gar nicht, wenn sie Beziehungen zu einer der Familien hat. Auch die Polizei müsste darüber Kenntnis erhalten. Und bei den ehrenwerten, französischen Staatsdienern gibt es entgegen jeglichem Klischee niemanden, der auf der Pay-Role des Onkels steht? Die Spielchen mit den SMS vom Telefon des Opfers aus, um sich auf der Flucht mehr Zeit zu verschaffen, sind schon sehr weit hergeholt und konstruiert.
Nun gut, wir wissen nicht genau, was Lucien vor seiner Flucht noch getan und was er nicht getan hat: ein Plot-Hole wäre es dann schließlich schon. Aber irgendwie muss es im ausstehenden Abschlussband ja noch dramatisch weitergehen, oder?
Fazit: Wilder Ritt durch Religion, Reue und Rache
HABEMUS BASTARD ist ein Comic, der in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen fällt – und das im besten Sinne. Schwartzmann und Vallée gelingt es, eine klassische Gangstergeschichte mit Elementen der schwarzen Komödie und der Gesellschaftssatire zu verbinden. Dabei rutschen Sie nie ins Klischeehafte oder Beliebige ab. Die Erzählstruktur ist straff und pointiert, die Charaktere sind vielschichtig und glaubwürdig, der zeichnerische Stil ist auf höchstem Niveau.
Was den Comic besonders auszeichnet, ist die gelungene Balance zwischen Spannung und Humor. Die Geschichte bleibt bis zum Schluss unvorhersehbar. Die Figuren wachsen einem trotz (oder gerade wegen) ihrer Schwächen ans Herz, und die Zeichnungen laden zum wiederholten Betrachten ein. Wer Comics liebt, die mehr bieten als reine Unterhaltung, wird hier fündig. Dies gilt auch für Freunde des schwarzen Humors und der gepflegten Satire.
Abschließend lässt sich sagen: HABEMUS BASTARD ist ein wilder, respektloser und zugleich tiefgründiger Ritt durch die Abgründe der menschlichen Natur. Die Geschichte ist brillant erzählt, meisterhaft gezeichnet und mit einer ordentlichen Portion Augenzwinkern serviert. Ein Pflichtkauf für alle, die Comics als eigenständige Kunstform schätzen und keine Angst vor bissigem Humor haben.
Wer nach dem ersten Band nicht sofort zum zweiten greifen will, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen! Der erscheint (voraussichtlich) übrigens im September 2025.
HABEMUS BASTARD – Band 1: Das notwendige Übel
© Splitter-Verlag| Hardcover | 88 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★★☆
Zeichnungen: ★★★★★
Lettering: ★★★★★
Humor: ★★★★☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★★
ISBN: 978-3-96792-078-9
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Fussnoten:
* Verlagsbeschreibung