SCHWEIGEN – Ein lauter Ruf gegen die Stille des Vergessens

SCHWEIGEN ist die neueste Graphic Novel der Hamburger Comiczeichnerin Birgit Weyhe. Die Autorin ist für ihre präzise recherchierten und emotional tief gehenden Werke bekannt. In diesem Band widmet sie sich den Schicksalen von zwei Frauen, deren jeweiliges Leben durch Diktatur und Unterdrückung geprägt wird. Weyhe beleuchtet dabei nicht nur die individuellen Tragödien, sondern auch die politischen Verstrickungen zwischen Deutschland und Argentinien.

Als Folge von Diktatur und Unterdrückung wird in den meisten Ländern geschwiegen – was die Täter schützt und das Gedenken an die Opfer verblassen lässt. Die Graphic Novel Schweigen erinnert an zwei Frauen und ihre Schicksale.

Zum einen Ellen Marx, die als 17-jährige deutsche Jüdin im Frühjahr 1939 nach Buenos Aires emigriert. Ellens gesamte Familie kommt im Holocaust um. In den 1970er Jahren wiederholt sich Ellens Diktaturerfahrung auf tragische Weise: Ihre Tochter Nora „verschwindet“ während der grausamen argentinischen Militärdiktatur.

Zum anderen Elisabeth Käsemann: Sie gehört zur deutschen Nachkriegsgeneration, die sich innerhalb der Studentenbewegung politisiert. Ab 1969 studiert sie in Buenos Aires und engagiert sich in den Armenvierteln der Stadt. 1977 wird sie verhaftet, in das Folterlager El Vesubio verschleppt und ermordet. Das Auswärtige Amt schweigt dazu, da wirtschaftliche Interessen und die bevorstehende Fußball-WM in Argentinien wichtiger erscheinen. (Verlagstext)

 

Innenseite 1 der Graphic Novel SCHWEIGEN von Birgit Weyhe

Zwei Leben, ein Schicksal

Die Geschichten folgen zwei realen Hauptfiguren: Zum einen ist da Ellen Marx. Sie ist eine junge, deutsche Jüdin, die 1939 nach Buenos Aires emigriert und die ihre Tochter Nora während der argentinischen Militärdiktatur in den 1970er Jahren verliert.

Zum Anderen wird das Leben von Elisabeth Käsemann erzählt, einer deutschen Studentin, die sich in Argentinien politisch engagiert und die 1977 von der Militärjunta ermordet wird.

Durch diese beiden Erzählstränge thematisiert Birgit Weyhe ihr Thema – das SCHWEIGEN über die Verbrechen einer Diktatur – und betont die Bedeutung der aktiven Erinnerung. Denn alles andere als SCHWEIGEN ist während einer Diktatur lebensgefährlich. Danach jedoch hilft es nur den Tätern. Die Opfer erleben durch ihr eigenes SCHWEIGEN – aber auch das der Anderen – gegebenenfalls eine erneute bzw. eine verlängerte Traumatisierung.

 

Innenseite 2 der Graphic Novel SCHWEIGEN von Birgit Weyhe

Grafische Reduktion …

Birgit Weyhe’s künstlerischer Stil in SCHWEIGEN ist geprägt von einer reduzierten Linienführung und einer simplifizierten Farbpalette, die die Ernsthaftigkeit des Themas unterstreicht. Die wiederkehrende Verwendung von Symboliken – wie beispielsweise Vögeln, die für Freiheit stehen – verleiht den Bildern eine zusätzliche, chiffrierte, aber allgemein verständliche Ebene.

Die klare Struktur der Panels ermöglicht es dem Leser, sich auf die erzählten Geschichten zu konzentrieren, ohne von gegebenenfalls überladenen Bildern abgelenkt zu werden. Dies ist Mittel zum Zweck, aber gleichzeitig auch ein Kritikpunkt:

Die Panelgestaltung wirkt stellenweise altbacken, ja geradezu bieder und aus der Zeit gefallen. Der bewusst reduzierte grafische Stil – minimalistische Farbgebung, abstrahierte Figuren, strenge Panelstruktur – unterstützt zwar die Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit des Werks. Aufgrund des Umfangs dieser Graphic Novel von 368 Seiten ist die Art der Darstellung auf Dauer jedoch ermüdend. (Lesebändchen sei Dank wissen wir immer wo wir aufgehört haben.)

Ja, es existieren Bilder, die den Betrachter mit voller Wucht treffen. Gerade in der heutigen Zeit jedoch, in der die Sehgewohnheiten durch filmische Kameraführungen geprägt sind, wirken die Panels mit der Zeit distanzierend – unnötig distanzierend. Hier hat Weyhe meines Erachtens eine Chance vertan, den Leserinnen und Leser emotional intensiver einzubeziehen.

 

Innenseite 3 der Graphic Novel SCHWEIGEN von Birgit Weyhe

… mit umfangreichen Texten

Trotz der visuell zurückhaltenden Gestaltung ist SCHWEIGEN vergleichsweise textlastig. Es gibt Seiten, auf denen der Text dominiert und die grafische Sprache in den Hintergrund tritt. Dies kann ein Gefühl vermitteln, eher ein illustriertes Geschichtsbuch als eine Graphic Novel vor sich zu haben.

Vor dem Hintergrund des Themas ist die Vermittlung der Fakten neben den narrativen Erzählsträngen ein wichtiger Aspekt des Werkes. Diese Fakten lassen sich leider nicht immer mit dem Grundsatz „Show-Don’t-Tell“ vermitteln. Dafür ist der benötigte, geschichtliche Hintergrund zu umfangreich.

Daher hat sich mir während der Lektüre immer wieder die Frage gestellt: Warum hat die Autorin bei der Vielzahl erzählerischer Möglichkeiten und Medien ausgerechnet die Graphic Novel gewählt?

 

Innenseite 4 der Graphic Novel SCHWEIGEN von Birgit Weyhe

Vom Schweigen zum Widerstand

Die Charaktere in SCHWEIGEN durchlaufen bemerkenswerte Entwicklungen. Ellen Marx, die als Jugendliche Europa verlassen muss und die zunächst als Opfer erscheint, wird als Mutter durch ihre unermüdliche Suche nach ihrer Tochter zu einer Symbolfigur des Widerstands gegen das Vergessen. Auch sie gehört schließlich zu den Madres de Plaza de Mayo, die mit ihren weißen, zu Kopftüchern umgearbeiteten Stoffwindeln zum Sinnbild des argentinischen, gewaltfreien Widerstandes wurden.

Die 1979 erschienene, spanische Version des Liedes „Chiquitita“ der Pop-Gruppe ABBA gelangte in Spanien, Mexiko und eben auch in Argentinien zu großer Beliebtheit als ein symbolträchtiges Lied einer unterdrückten Bevölkerung. Gerade auch für die Madres de Plaza de Mayo.

Auch Elisabeth Käsemann wird nicht nur als Opfer sondern als eine aktive Kämpferin für soziale Gerechtigkeit dargestellt. Sie steht für ihre Überzeugungen ein und fällt den Schergen eines unterdrückenden Machtapparats zum Opfer. Dies erfordert Mut, Hoffnung und Willensstärke im Angesicht von möglicher Folter und des eigenen Todes.

Beide Entwicklungen zeigen, wie aus Schweigen individueller Widerstand erwachsen kann – trotz persönlich erlebter Repressalien.

 

Innenseite 5 der Graphic Novel SCHWEIGEN von Birgit Weyhe

Historische Präzision und emotionale Tiefe

Was SCHWEIGEN von anderen Graphic Novels unterscheidet, ist die Kombination aus historischer Präzision und emotionaler Tiefe. Birgit Weyhe gelingt es, komplexe politische Zusammenhänge verständlich darzustellen, ohne die persönliche Dimension der Geschichten aus den Augen zu verlieren. Die sorgfältige Recherche und die einfühlsame Erzählweise machen dieses Werk zu einem wichtigen Beitrag der Erinnerungskultur.

Hierzu trägt auch die Doppelstruktur aus Nacherzählung der Lebensgeschichten der beiden Frauen und der jeweils eingeschobenen Darstellung eines Kontextes mit historischen Fakten bei.

 

Innenseite 6 der Graphic Novel SCHWEIGEN von Birgit Weyhe

Wo Licht ist, gibt es Schatten

Stellenweise empfand ich die erzählerische Struktur des Werkes als zu lehrbuchhaft. Weyhe verfolgt einen klar dokumentarischen und aufklärerischen Ansatz, was in ihrem Werk mitunter zu einem „pädagogischen Duktus“ führt. Die politische und historische Botschaft steht in manchen Passagen so stark im Vordergrund, dass die narrative Subtilität verloren geht. Dies tut dem Anspruch an das Werk nicht gut.

Ich gehöre zu den Lesern, die eine stärker literarisch-emotionale Erzählweise bei meinen Comics / Graphic Novels bevorzugen. Daher irritiert – und distanziert – mich die verwendete  Herangehensweise, bei der für mich vielfach ein anklagender Zeigefinger mitschwang. Will mich die Autorin warnen, vor dem was jederzeit wieder geschehen könnte? Oder will sie überwiegend die Täter anklagen? Ich konnte es nicht immer unterscheiden.

 

Innenseite 7 der Graphic Novel SCHWEIGEN von Birgit Weyhe

 

SCHWEIGEN – ein Werk mit Engagement für Erinnerung und Aufarbeitung

Birgit Weyhe setzt ein gewisses Maß an Vorwissen – oder auch Interesse – an den historischen Zusammenhängen voraus (wie z. B. an der argentinische Militärdiktatur oder an deutscher Exilgeschichte). Ohne dieses Hintergrundwissen bleiben manche inhaltlichen Verknüpfungen eher abstrakt. Gleichzeitig bietet der Comic aber ausreichend Hinweise, um dieses Grundverständnis zu sichern. Die emotionale Wirkung der Geschichten entfaltet sich m.E. aber stärker bei bereits sensibilisierten Leserinnen und Lesern.

SCHWEIGEN ist eine Graphic Novel, die inhaltlich zumeist überzeugt. Birgit Weyhe gelingt es, die Geschichten ihrer Protagonistinnen auf eine Weise zu erzählen, die sowohl den historischen Ereignissen als auch den persönlichen Schicksalen gerecht wird. Dieses Werk ist nicht nur für Fans sequentieller Erzählungen ein starkes Werk, sondern für alle, die sich mit der Geschichte und der Bedeutung des Erinnerns auseinandersetzen wollen. Man sieht dem Werk die viele Arbeit an, die investiert wurde. Grafisch hingegen gibt es Potential, dass nicht voll ausgeschöpft wurde.

Meinem informierten, reflektierten Publikum kann ich darum nur zurufen: Lass Dich von „SCHWEIGEN“ berühren und rege Gespräche über Erinnerung und die Aufarbeitung von Missständen an: „Diejenigen, die nicht aus der Geschichte lernen können, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ – Georg Santayana

 


Cover der Graphic Nocel SCHWEIGEN vom Birgit WeyheSCHWEIGEN

© Avant-Verlag| Hardcover mit Leseband | 368 Seiten | Farbe

Storyline:   ★★★☆☆
Zeichnungen:  ★★☆☆☆
Lettering:  ★★★☆☆
Humor:  ☆☆☆☆☆
Meine persönliche Bewertung:  ★★★☆☆
ISBN: 978-3-96445-141-5

Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.

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