Cover von DIE KLUFT

DIE KLUFT beschreibt Sehnsucht und Leerlauf

DIE KLUFT – im Original THE GULF – wirkt auf den ersten Blick wie ein sicherer Kandidat für das Regal der großen Coming-of-Age-Comics. 240 Seiten in denen drei Teenager auf der Flucht sind vor Zukunftsangst und Erwartungsdruck. Eine abgelegene Inselkommune vor der Küste von Vancouver wird zum Ziel der Träume. Erst einmal schreit alles nach existenzieller Roadtrip-Magie.

Je länger man liest, desto deutlicher zeigt sich jedoch eine andere Wahrheit. Adam de Souza hat mit DIE KLUFT ein Buch vorgelegt, das diese Erwartungen nur teilweise einlöst. Die Geschichte tastet sich an die großen Themen heran, an Sinnsuche, an Kapitalismuskritik, koloniale Geschichte Kanadas und Online Mobbing. Vieles bleibt jedoch Andeutung, wenig gewinnt über die Schlusspointe hinaus Kontur.

Die Ausgangsidee besitzt erst einmal Kraft. Oli(via) steht 2007 kurz vor dem Highschool Abschluss in Vancouver. Von Eltern, Schule und Gesellschaft hört sie immer nur Varianten derselben imperativen Forderung: Wähle dein Studienfach, mach‘ einen Plan, funktioniere!.

 

Innenseite 5 von DIE KLUFT

Zwischen Utopie und Müdigkeit

Gleichzeitig träumt sie seit Kindertagen von „The Evergreen“, einer Inselkommune, deren Flyer einmal den Weg in ihrem Kinderzimmer gefunden hatte. Dieser Zettel wird zu ihrem persönlichen Rettungsanker. Die Welt da draußen wirkt laut und falsch. Die Insel verspricht Einfachheit und eine Gemeinschaft aus Gleichgesinnten. Sie ist ein Sehnsuchtsort.

De Souza setzt dies in einer reduzierten, zweifarbigen Bildsprache um. Blaue Flächen, sandige Töne, lockere Strichführung. Die Figuren erinnern an klassische Zeitungsstrips, die Wälder und Buchten der kanadischen Westküste an nostalgische Landschaftscomics.

Wenn die Jugendlichen am Fährdeck stehen oder im hohen Gras verschwinden, dann ahnt man, wovon der Autor erzählen will: von Zwischenräumen, von der Kluft (!) zwischen Sehnsucht und Realität, zwischen Teenager-Fantasie und Erwachsenenwelt. Daher kommt wohl auch der Name des Werkes. Meiner Meinung nach liegt das Problem weniger im Ansatz als in der Umsetzung.

 

Innenseite 6 von DIE KLUFT

Drei Jugendliche, ein dünner Plan

Schon im ersten Drittel von DIE KLUFT tritt die lange, vielleicht zu lange Erzählung spürbar auf der Stelle. Die gleichen Konflikte drehen sich in leicht variierter Form im Kreis. Die Bildideen wiederholen sich. Statt einen Sog zu entfalten, entsteht ein Gefühl von Leerlauf. Man spürt, dass hier jemand die Atmosphäre sehr gut beherrscht, aber dann doch mit dem langen Atem einer 240 Seiten Erzählung kämpft.

Die Handlung setzt früh ein. Oli lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter, schwankt zwischen Resignation und Wut und hängt in einer Freundesgruppe, in der vieles unausgesprochen bleibt.

Milo, Film-Nerd mit Kamera, und Alvin, stiller Mitläufer, kreisen um sie. Liam, ihr ehemaliger bester Freund und halbherziger Love Interest, hat ein intimes Geheimnis weiter erzählt, das er besser für sich behalten hätte. Aus dieser Verletzung entsteht die Eskalation, die Oli endgültig aus der Bahn wirft.

De Souza zeigt diese Eskalation in mehreren Stufen. Erst das heimliche Teilen eines intimen Moments, dann das Kichern auf den Gängen, der digitale Spott, die Anonymität des Mobbing. Schließlich ein körperlicher Übergriff eines Mitschülers, auf den Oli zurückschlägt. Sie verliert dabei aber mehr als nur ihren Ruf und steht plötzlich vor einer Mischung aus schulischer Strafe und familiärer Überforderung. An diesem Punkt entscheidet sie sich endgültig zur Flucht nach „The Evergreen“.

Sie überredet Milo, sie zu begleiten. Milo wiederum zieht Alvin mit hinein. Er verkauft die Reise als kleines Abenteuer, als Gelegenheit für ein Filmprojekt über alternative Lebensformen. Dass er selbst heimlich in Alvin verliebt ist, erzählt er niemandem. Dieses Dreieck aus Wut, romantischer Unsicherheit und ideologischer Überhöhung bildet den Motor der Geschichte. Zumindest theoretisch.

 

Innenseite 7 von DIE KLUFT

Roadtrip mit angezogener Handbremse

Der Roadtrip, der folgt, besitzt einige starke Momente. Eine unangenehme Autofahrt mit einem zu aufdringlichen Fahrer gehört ebenso dazu wie schlaflose Nächte auf unbequemen Sofas oder der Blick auf die Weite des Meeres von der Fähre aus. Immer wieder gelingen de Souza kurze, treffende Beobachtungen. Die Welt fühlt sich real, ja bewohnt an.

Doch gerade hier zeigen sich für mich die strukturellen Schwächen. Szenen, die die Figuren hätten schärfen können, bleiben merkwürdig vage. Die Außenwelt ist wichtiger als das Innenleben der Protagonisten. Konflikte brechen auf, lösen sich im nächsten Panel im Halbsatz wieder. Die Reise wirkt weniger wie eine zugespitzte Erzählung und mehr wie ein aneinander gereihtes Notizbuch voller Augenblicke.

Im Vergleich zu anderen Roadtrip- und Jugend-Comics wie EIN SOMMER AM SEE oder BLANKETS fehlt der klare Rhythmus aus Anspannung und Entspannung. DIE KLUFT hangelt sich von Episode zu Episode, ohne echten dramaturgischen Bogen.

 

Innenseite 8 von DIE KLUFT

Utopie auf Sparflamme

Die zweite Hälfte von DIE KLUFT gehört der Insel. Endlich erreicht das Trio „The Evergreen“, jenen Ort, den Oli jahrelang idealisiert hat. Die Kommune lebte von Gemüsebeeten, Gemeinschaftsküche und der Idee eines gerechteren Miteinanders. Zumindest behaupten dies die, die noch übrig sind.

Auf dem Papier wäre das eine Steilvorlage: Eine Utopie, die an ihren eigenen Strukturen scheitert und Jugendliche, die hierdurch merken, dass Ideale auch Arbeit bedeuten. Ein System, das kolonial besetztes Land nutzt, während es von Harmonie mit der Natur spricht. All das schwingt lediglich in Andeutungen mit. Man spürt, dass der Alltag einer Kommune wenig mit romantischen Flyern zu tun hat.

 

Innenseite 9 von DIE KLUFT

Konflikte ohne Biss

Der Comic bleibt auch hier konsequent an der Oberfläche. Es gibt Streit um Aufgaben, unausgesprochene Machtverhältnisse, finanzielle Abhängigkeiten, die Frage nach indigener Landnutzung. Nichts davon erhält die erzählerische Schärfe, die es bräuchte, um wirklich weh zu tun. Stattdessen verlaufen die Konflikte in einem melodramatischen Mix aus Eifersucht und gekränktem Idealismus.

Auch formal wirkt die Inselsequenz erstaunlich zahm. Die Panelarchitektur bleibt überwiegend konventionell. Viele Seiten zeigen drei oder vier horizontale Streifen mit ähnlich aufgebauten Einstellungen. Nur selten wagt sich de Souza an radikalere Bildlösungen. Eine echte räumliche Landkarte der Kommune entsteht dadurch kaum. Wer nach der Lektüre versucht, „The Evergreen“ im Kopf zu rekonstruieren, landet bei einem diffusen Sammelbild aus Küche, Schlafraum und ein paar Wegen im Wald.

Das Finale verstärkt diesen Eindruck. Die Utopie bröckelt, Beziehungen brechen, einige Figuren werden nach Hause fahren, andere bleiben. Die Erzählung setzt auf eine bewusst offene Schlussnote. Die Freiheit, die der Comic den Figuren zugesteht, geht dabei zulasten der narrativen Präzision. Eine Heldenreise ist dieser Road-Trip wahrlich nicht.

Statt eines klaren Eindrucks bleibt bei mir ein leichtes Achselzucken. DIE KLUFT endet, als hätte man mitten in einem Tagebuch einfach aufgehört zu schreiben. Und ich Frage mich: War’s das jetzt etwa? Braucht es dafür tatsächlich 240 Seiten?

 

Innenseite 10 von DIE KLUFT

Figuren, die sich fast trauen

Die stärkste und zugleich frustrierende Qualität von DIE KLUFT liegt im Figurenensemble. Oli, Milo, Alvin und Liam besitzen erkennbare Profile. Oli ist impulsiv, idealistisch, wütend und gleichzeitig verängstigt. Milo flüchtet sich in die Kamera und in ironische Kommentare. Alvin beobachtet viel und sagt wenig. Liam steht irgendwo zwischen Arschloch und verunsichertem Teenager, der zu spät merkt, was er mit seiner Indiskretion angerichtet hat.

In einzelnen Szenen blitzen diese Profile hell auf z.B. wenn Oli im Gang des Schulgebäudes explodiert. Oder wenn Milo heimlich auf Alvin schielt und seine Gefühle hinter nerdigen Sprüchen versteckt. In solchen Momenten schiebt sich der Comic nah an die radikal ehrliche Teenagerzeichnung eines GHOST WORLD oder von ROAMING heran.

 

Innenseite 11 von DIE KLUFT

Fast gute Figuren, fast große Gefühle

Doch de Souza zieht selten einmal richtig durch. Statt Konflikte konsequent auszuspielen, wechselt die Erzählung oft schnell die Perspektive. Ein Streit bleibt unaufgelöst im Raum stehen oder eine mögliche Aussprache endet in einem flapsigen Witz. War das früher – in meiner Jugend – wirklich so? Oder ist bei der heutigen Jugend alles tatsächlich anders?

Die Figuren wirken, als würde man sie im entscheidenden Augenblick ausblenden. Vielleicht soll das die Verlegenheit und Sprachlosigkeit jugendlicher Kommunikation spiegeln. Ich weiß es nicht, im Lesefluss fühlt es sich für mich wie ein Zurückschrecken an.

Auch die Nebenfiguren leiden unter dieser Zurückhaltung. Oli’s Mutter taucht auf, wirkt glaubhaft überfordert und verschwindet wieder in der Kulisse. Die Erwachsenen in der Kommune erscheinen als klischeehafte Figuren, als abgehalfterter Öko-Guru oder als schweigsamer Handwerker. Hier steckt erheblich mehr Potenzial für Reibung und Ambivalenz, doch der Comic gönnt ihnen kaum mehr als ein paar Szenen.

Die queere Dimension der Geschichte bleibt ebenfalls erstaunlich zurückhaltend. Milo’s Verliebtheit in Alvin wirkt glaubwürdig, läuft aber parallel zur Haupthandlung. Sie erhält weder einen erzählerischen Kulminationspunkt noch eine echte Konsequenz, vertanes Konfliktpotential. Im Jahr 2025 dürfen Jugendcomics mehr wagen.

 

Innenseite 12 von DIE KLUFT

Zwischen Zine Charme und Preisregal

Wer Adam de Souza nur über DIE KLUFT kennenlernt, merkt schnell, dass hier kein Zufallsdebüt vorliegt. Der kanadische Zeichner aus Vancouver hat sich mit seinem Webcomic BLIND ALLEY bereits eine feste Fanbase erarbeitet und dafür den Cartoonist Studio Prize gewonnen. Der Strip erhielt außerdem eine Auszeichnung bei den Doug Wright Awards.

DIE KLUFT erschien 2024 bei Tundra Books und brachte ihm Nominierungen für die Eisner Awards bei den „Best Publication for Teens“ ein. Die deutsche Ausgabe bei Reprodukt markiert sein Debüt im deutschsprachigen Raum.

 

Innenseite 13 von DIE KLUFT

Zwischen Webcomic und Roman-Ambition

De Souza kommt aus der Welt der Zines – also den kleinen, selbst verlegten Publikationen – und Online Strips. Er arbeitet in Vancouver auf dem Gebiet mehrerer indigener First Nations und beschäftigt sich in seinen Arbeiten immer wieder mit Naturmotiven, Jugend und dem Gefühl, zwischen Welten zu stehen.

Seine Zeichnungen setzen auf weiche Linien, leichte Überzeichnung und eine Mischung aus Alltagsbeobachtung und surrealen Einfällen. In BLIND ALLEY und BRAMBLES funktionieren diese Qualitäten hervorragend. Kurze Episoden, eigenwillige Figuren, leise Weirdness.

 

Innenseite 14 von DIE KLUFT

Auf der Suche nach der langen Form

In DIE KLUFT prallt dieses Zinehafte auf die Anforderungen einer langen Erzählung. Man spürt an vielen Stellen den Wunsch, Zeit zu lassen, Pausen zu setzen oder die Natur sprechen zu lassen. Eine Art Entschleunigung in hektischen Zeiten?

Die Wälder, Fähren und Küsten sind mit sichtbarer Zuneigung gezeichnet. Einige Panels besitzen eine Ruhe, die man in schneller produzierten Mainstream Titeln vergeblich sucht. Andererseits nimmt die Geschichte dadurch nur Verhalten Fahrt auf und wird nicht vorangetrieben.

Die visuelle Sprache bleibt erstaunlich gleich. Die Figuren unterscheiden in Körpersprache und Mimik wenig. Der skizzenhafte Stil wirkt zwar sympathisch, gewinnt aber selten die Schärfe, die eine 240 Seiten Geschichte braucht.

Spannende, grafische Entscheidungen wie ungewöhnliche Panelraster oder stark abstrahierte Doppelseiten tauchen nur vereinzelt auf. Vieles erinnert an einen Webcomic den ich durch scrollen soll, weniger an eine durchkomponierte Graphic Novel, bei der ich mir alle Zeit der Welt nehmen kann, die Seiten zu betrachten.

Gerade weil man weiß, wie hoch die Erwartungen inzwischen an de Souza’s Arbeit sind, wirkt DIE KLUFT wie ein Zwischenschritt. Das Werk ist kein Fehlschlag, aber auch kein Meisterwerk. Eher ein Buch, in dem ein sehr begabter Künstler ausprobiert, wie weit sein bisheriger Ansatz trägt – und dabei sichtbar an seine aktuellen Grenzen stößt.

 

Innenseite 15 von DIE KLUFT

Fazit

Bleibt die Frage, ob man DIE KLUFT empfehlen kann. Die ehrliche Antwort lautet „ja, aber“ mit deutlicher Einschränkung. Wer eine bissige Gesellschaftsanalyse erwartet, wird enttäuscht. Wer eine radikal psychologische Studie jugendlicher Wut sucht, greift besser zu anderen Titeln.

Trotzdem besitzt der Comic Qualitäten, die sich nicht ignorieren lassen: die Landschaftsbilder, die Fähren, die Höfe, das Licht über den Grasflächen. Die Art, wie de Souza das Gefühl einfängt, als junger Mensch am Rand einer Entscheidung zu stehen und trotzdem noch nicht einmal die richtigen Fragen zu kennen. Die Unsicherheit, ob man zur Welt passen will oder sie lieber von außen beobachtet.

Für jugendliche Leserinnen und Leser (laut Verlagsangaben: ab 14 Jahren), die sich mit dem Druck von Berufsentscheidungen, Social Media und unausgesprochenen Gefühlen herumschlagen, kann DIE KLUFT ein Spiegel sein. Vielleicht sogar gerade deshalb, weil der Comic sich manchmal verzettelt. Die Unentschiedenheit der Erzählung spiegelt die Unentschiedenheit der Figuren. Das macht die Geschichte nicht besser konstruiert, aber in manchen Momenten ehrlich. Ich bin für dieses Werk eindeutig zu alt.

Wer sich ohnehin für die Karriere von Adam de Souza interessiert oder BLIND ALLEY bereits schätzt, sollte einen Blick riskieren. Allein um zu beobachten, wie ein Künstler, der in Strips und Kurzcomics brilliert, sich im Langformat abmüht…

 


Cover von DIE KLUFTDIE KLUFT

© Reprodukt Verlag | Hardcover | 240 Seiten | Farbe

Storyline:  ★★☆☆☆

Zeichnungen: ★★★☆☆

Farben: ★★☆☆☆

Lettering: ★★☆☆☆

Humor: ★☆☆☆☆

Meine persönliche Bewertung: ★★☆☆☆

ISBN: 978-3-95640-485-6

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