Es gibt Zeiten, in denen will man einfach nur weitermachen. Ganze Völker wollen einfach nur weitermachen. Weitermachen und vergessen. Und doch bleibt das, was geschehen ist, immer Teil dieser Menschen.
So war es im Nachkriegs-Deutschland. So war es bei den Spaniern der Post-Franco-Ära. DER ABGRUND DES VERGESSENS ist eine Graphic Novel, die mehr als nur einen Einblick in die düsteren Kapitel der spanischen Geschichte bietet. Sie erzählt von einer Zeit, in der Erinnern gefährlich war und das Vergessen verhängnisvoll.
Spanien, Franco-Ära
Die Geschichte setzt ein im September 1940, kurz nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs. José Celda, ein einfacher Mann, wird von franquistischen Sicherheitskräften erschossen. Er verschwindet, wie so viele andere Republikaner, in einem Massengrab. Die offizielle Geschichtsschreibung schweigt, die Verwandten trauern im Verborgenen, Angst liegt wie Blei über den Überlebenden.
Sieben Jahrzehnte vergehen. Die Vergangenheit wirkt nach. Josés Tochter Pepica, mittlerweile achtzig, sucht nach den sterblichen Überresten ihres Vaters. Es bleibt eine scheinbar aussichtslose Suche, weil das Franco-Regime nicht nur Körper verschwinden ließ. Es löschte auch Spuren aus, versiegelte Akten und verbot Trauer öffentlich zu zeigen.
Doch Pepica bekommt Hilfe. Der junge Totengräber Leoncio Badía (selbst Republikaner) riskierte sein Leben, damit die Opfer nicht namenlos blieben. Er sammelte Erinnerungsstücke, widersetzte sich der Vereinnahmung durch die Sieger. Seine Handlungen blieben für ihn gefährlich. Bis heute schätzen Historiker, dass zwischen 100.000 und 150.000 Menschen während des Bürgerkrieges und der Diktatur verschwanden und nie wiedergefunden wurden.
Die Überlebenden kämpfen mit ihrer Ohnmacht. Dieses zentrale Motiv zieht sich durch das Werk. Die Toten fordern die Erinnerung derer ein, die vergessen wollen. Die familiäre Perspektive steht dabei narrativ immer im Mittelpunkt. Aus Gräbern steigen Geschichten auf wie Gespenster und verweben schicksalhafte Einzelerlebnisse mit der kollektiven Tragödie aller „desaparecidos“, aller Verschwundenen. Paco Roca und Rodrigo Terrasa geben ihnen in dieser Erzählung Gesichter, Stimmen und Würde.
Spurensuche zwischen Wahrheit und Verschweigen
Die Handlung von DER ABGRUND DES VERGESSENS springt zwischen privatem Drama, historischem Bericht und investigativer Aufarbeitung umher. Roca und Terrasa verweben sorgfältig recherchierte Fakten mit den persönlichen Perspektiven von Beteiligten und folgen in ihrer Geschichte dem klassischen Aufbau einer Spurensuche.
Nach und nach decken die Protagonisten – wie in einer archäologischen Ausgrabung – Schicht um Schicht dessen ab, was politisch und privat über Jahrzehnte hinweg verschüttet wurde. Die Erzählstruktur wechselt zwischen Chronologie und Rückblenden. Die Vergangenheit wirkt in Momentaufnahmen nach.
Zeitzeugen und Nachgeborene kommen zu Wort, Erinnerungsfetzen durchbrechen die Stille des Schweigens und persönliche Geschichten stehen dabei im Kleinen für das gesellschaftliche Zerwürfnis im Großen und erzeugen ihre eigene Dynamik.
Chronik einer gebrochenen Stille
Literarisch setzt der Comic nicht auf Distanz, sondern führt uns direkt mitten hinein in die Konflikte. Wir erleben die Angst hautnah, das Unrecht, aber auch die Solidarität. Dass der Comic die Taten beider Seiten – und nicht nur die der Franco-Diktatur – thematisiert, macht das Werk erzählerisch vielschichtig. Zwischen den Panels knistern die Spannung und das Unausgesprochene.
So entsteht eine erzählerische Stellung des Nebeneinander von dokumentarischem Ton, emotionaler Nähe und subtilen Kommentaren. Auch für diejenigen unter uns mit Grundkenntnissen zur Geschichte Spaniens bietet DER ABGRUND DES VERGESSENS daher neue Perspektiven.
Figuren am Abgrund der Geschichte
Die Hauptfiguren in DER ABGRUND DES VERGESSENS sind bemerkenswert gezeichnet, sowohl optisch als auch in ihrer psychologischen Tiefe. Pepica steht im Zentrum des Suchens und Erinnerns. Ihre zwanghafte, unerschütterliche Entschlossenheit wird ergänzt durch Trauer und Altersweisheit. Ihre Figur überzeugt mit Authentizität. Sie agiert, zweifelt, erträgt. Sie erhebt keine Anklage, sondern sucht nach Wahrheit und Würde für den Vater und für die Familie.
Leoncio Badía dagegen verkörpert den stillen Widerstand. Er nimmt Risiken in Kauf, um Opfer sichtbar zu machen. Seine zurückhaltende Art spiegelt den emotionalen Schmerz vieler Zeitzeugen, die zwischen Pflichtgefühl und Angst leben mussten. Die Autoren geben auch den Biographien der Opfer Raum. Sie steigen aus der Anonymität der Statistik auf und nehmen individuelle Konturen an.
Menschliche Gesichter der Zeit
Neben den Protagonisten wirken auch die Nebencharaktere plastisch. Familienangehörige, Ermittler, Mitläufer und Mitschuldige werden nicht bloß als narratives Mittel benutzt, sondern mit menschlichen Schwächen und Selbstzweifeln ausgestattet. Die Authentizität der Dialoge und die leisen Töne in der Figurenzeichnung machen den Comic realistisch. Kaum eine Figur erscheint seelenlos oder eindimensional. Alle tragen zur Geschichte, zur Handlung bei.
Schließlich reflektieren die Persönlichkeiten das Dilemma des Erinnerns selbst. Ist Erinnerung eine Last? Eine Pflicht? Oder gar ein politischer Akt? DER ABGRUND DES VERGESSENS gibt hierauf keine einfachen Antworten, doch die Figuren werden zu Botschaftern gegen das Vergessen.
Vom Journalismus zur Kunst des Erinnerns
Rodrigo Terrasa ist als investigativer Journalist für die spanische Tageszeitung El Mundo bekannt. Sein erstes Buch, die Chronik LA CIUDAD DE LA EUFORIA, handelt von milliardenschweren Bausünden und jahrelanger Korruption in Valencia..
Im Team mit Roca bringt Terrasa seine Recherchekompetenz ein. Diese Fähigkeit, in großen Chronologien das individuelle Schicksal sichtbar zu machen, verleiht dem Comic eine zusätzliche, journalistische Tiefe. Paco Roca und Rodrigo Terrasa lassen in DER ABGRUND DES VERGESSENS ihre jeweiligen Stärken auf bemerkenswerte Weise einfließen.
Paco Roca ist einer der bekanntesten, international mehrfach ausgezeichneten Comic-Schaffenden Spaniens und bekannt für Werke wie KOPF IN DEN WOLKEN, DIE HEIMATLOSEN, RÜCKKEHR NACH EDEN und DER WINTER DES ZEICHNERS (alle im Reprodukt Verlag erschienen). Seine Themen kreisen oft um Erinnerung, Identität und Familie. Roca verbindet persönliche Geschichten stets mit sozialer, historischer Tiefe.
Farben der Erinnerung
Roca’s Zeichenstil zeichnet sich durch Empathie und erzählerische Präzision aus. Farben und Linienführung dienen als Verstärker von Emotion und Zeitgefühl. Häufig arbeitet er mit autobiografischen Elementen oder gibt Unbekannten eine Stimme. Nicht selten geht es in seinen Comics um das kollektive Gedächtnis Spaniens.
Die grafische Umsetzung von DER ABGRUND DES VERGESSENS trägt seinen unverwechselbaren Stempel. Seine Panels sind dokumentarisch präzise, lassen aber auch Platz für eine gewisse Melancholie. Mit feinen Linien und einer durchdachten Farbpalette transportiert Roca die Last der Geschichte. Vieles bleibt in kühleren Farbtönen gehalten. Erde, Blut und Uniformen bekommen so einen symbolhaften Charakter. Licht wird gezielt eingesetzt, um Hoffnung aufblitzen oder Erinnerungen verblassen zu lassen.
Biografien, die Geschichte atmen
Die Figuren wirken menschlich nahbar und nicht überzeichnet. Roca’s Stil legt Wert auf Details, verzichtet aber auf visuelle Effekthascherei. Die Lesegewohnheiten der europäischen Bandes dessinées treffen in DER ABGRUND DES VERGESSENS auf die erzählerische Dichte der spanischen Graphic-Novel-Tradition. Panels erhalten ausreichend Raum zu atmen, verdichten Sequenzen jedoch gleichzeitig zu eindrucksvollen Stimmungsbildern.
Ganze Szenen laufen ohne Worte, sind dadurch bedrückender als mit Worten. Die Zeit scheint immer wieder still zustehen. Roca’s Bildsprache lässt Mitgefühl oder Verzweiflung durchscheinen. Rückblenden werden oft grafisch abgedunkelt. Erinnerungen wirken wie durch einen Filter, als wolle man sie nicht nur sehen, sondern fühlen. Die Gestaltung macht das Lesen zu einem intensiven Erlebnis. DER ABGRUND DES VERGESSENS ist daher auch grafisch ein Gegenentwurf zum schnellen Vergessen spanischer Geschichte.
Die Zusammenarbeit beider Autoren resultiert in einer Graphic Novel, die faktensicher recherchiert und künstlerisch gekonnt umgesetzt ist. Sie feiern damit auch international Erfolge, wie etwa die Auszeichnung beim ACDCómic Award.
Erinnerung als Widerstand
Historisch ist DER ABGRUND DES VERGESSENS eine intensive Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung der Franco-Diktatur und dem Spanischen Bürgerkrieg. Der Comic legt seinen Finger auf eine kollektive Wunde. Die massenhafte Ermordung politisch Andersdenkender und das jahrelange Verschweigen stellen bis heute ein gesellschaftliches Trauma in Spanien dar. Somit ist das Werk ein zeitgemäßes Dokument.
Viele Gräueltaten wurden erst lange nach der Rückkehr zur Demokratie untersucht, obwohl Angehörige bereits Jahrzehnte nach Wahrheit und Gerechtigkeit suchten.
Der Pakt des Schweigens zerbricht
Roca und Terrasa gehen en détails auf die Mechanismen dieses Verschweigens ein. Öffentliche Trauer wurde verboten. Die Angst vor Repression war allgegenwärtig. Nationale Mythen standen der Aufarbeitung im Weg. DER ABGRUND DES VERGESSENS leistet einen Beitrag dazu, diesen „Pakt des Schweigens“ zu brechen. Ähnlich wie in den Aufarbeitungen zu Argentinien und in Ulli Lust’s SCHWEIGEN.
Dabei bleibt auch das vorliegende Buch nah an Einzelschicksalen. Die politische Dimension wird nie zur reinen Anklage. Vielmehr steht immer die Frage: Wie kann Erinnerung die Toten ehren und die Hinterbliebenen heilen? Anders als viele Werke, die den Bürgerkrieg oder die Diktatur nur aus der Perspektive der „großen“ Männer schildern, richtet sich das Scheinwerferlicht von DER ABGRUND DES VERGESSENS auf die Namenlosen.
Fazit – Vergessen ist keine Option
DER ABGRUND DES VERGESSENS ist weitaus mehr als eine weitere Geschichtserzählung in Comic-Form. Das Buch ist brisant und persönlich. Paco Roca und Rodrigo Terrasa erzählen nicht über Vergangenheit, sondern gegen „das Vergessen“. Etwas, das auch in der heutigen Politik gern eingefordert wird, wie z.B. das „Wir werden uns viel verzeihen müssen!“ eines Jens Spahn (CDU).
Roca und Terrasa geben denen ein Gesicht, die jahrzehntelang namenlos blieben. Die Lektüre ist bewegend, mitreißend und dabei unaufdringlich lehrreich. Die grafische Qualität unterstreicht das Thema, das Pacing bleibt über die 300 Seiten hoch, ohne je effekthascherisch zu werden.
Die Vielschichtigkeit der Charaktere, die Sorgfalt in der Recherche und die atmosphärisch dichte Bildsprache machen DER ABGRUND DES VERGESSENS zu einer wichtigen europäischen Graphic Novel. Das Buch gibt Denkanstöße, ist aber nie belehrend. Es macht Mut, weiterzufragen und nicht zu (ver-)schweigen.
Das Werk ist gedacht für alle, die Comics lieben und wichtig für alle, die das Medium als ernst zunehmende Kunst- und Erinnerungsform entdecken wollen. DER ABGRUND DES VERGESSENS bleibt haften. Es ist ein Buch, das gelesen werden will. Immer wieder aufs Neue.
Man sagt, dass es drei Arten von Tod gibt. Der Erste ist der, wenn Du aufgehört hast, zu atmen. Der Zweite, wenn niemand mehr da ist, der Dich kannte. Der Dritte, wenn niemand mehr über Dich spricht. Manchmal ist der Dritte auch schon der Zweite …

DER ABGRUND DES VERGESSENS
© Reprodukt Verlag | Hardcover | 304 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★☆☆
Zeichnungen: ★★★☆☆
Lettering: ★★★☆☆
Humor: ☆☆☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★☆☆
ISBN: 978-3-95640-464-1
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