Ich war gewarnt. „Lass die Finger von den Alten Knackern!“ haben sie gesagt. „Wenn Du einmal anfängst, hörst Du nicht mehr auf!“ haben sie gesagt. Und was mache ich? Ich stöbere in der Buchhandlung meines Vertrauens und stoße auf den ersten Band – DIE ALTEN KNACKER: Die übrig bleiben – und weiß in meinem Hinterkopf, dass dieses Album gerade in der zehnten – der 10ten (!) – Auflage erschienen ist.
Es kann doch wohl nicht so schlimm sein, einen Blick zu riskieren, oder? ODER? Doch, kann es!
Bissige Kritik mit Witz: Der Ton von DIE ALTEN KNACKER
Der Humor der Reihe ist ganz nach meinem Geschmack und allein die Rückseite des ersten Bandes holt mich richtig ab:
Ihr seid inkonsequent, rückschrittlich, bigott, ihr wählt rechts, ihr habt den Planeten geopfert, die Dritte Welt ausgehungert! In achtzig Jahren habt ihr quasi die Gesamtheit aller Lebewesen ausgerottet, ihr habt Ressourcen aufgezehrt und alle Fische gefuttert! Jedes Jahr werden weltweit fünfzig Milliarden Hühner in Mastbatterien gezüchtet und die Menschen verhungern. Historisch gesehen seid ihr die schlimmste Generation in der Geschichte der Menschheit!
Wie Sophie, die Enkelin von Antoine, in diesem einen Bild eine Gruppe alter Touristinnen – und natürlich Pierrot und Mimile, zwei der Protagonisten – herunterputzt, ist ganz großes Kino und weckt natürlich Erwartungen. Erwartungen von denen ich im Nachhinein sagen muss, dass sie voll und ganz erfüllt wurden. Doch um was geht es eigentlich?
Road-Movie mit Rollator: Der Plot der ALTEN KNACKER
Pierrot, Mimile und Antoine, drei Über-70-Jährige und Freunde seit ihrer Kindheit, haben sehr wohl begriffen, dass Altwerden die einzige bekannte Methode ist, um nicht zu sterben. Und angesichts der Gefahr, dass sich ihre Zeit auf Erden noch ein wenig hinziehen wird, sind sie fest entschlossen, dies mit Stil zu tun: Immer ein Auge auf die Vergangenheit, die nicht mehr existiert, während das andere eine Zukunft unter die Lupe nimmt, die immer unsicherer wird.
Eine Sozialkomödie mit einer ordentlichen Portion Klassenkampf! Und ein Aufeinandertreffen verschiedener Generationen, das fulminant als Road-Movie in die Toscana beginnt, wo Antoine zu zeigen versucht, dass man niemals zu alt ist, um ein Verbrechen aus Leidenschaft zu begehen.*
Besser kann man diesen ersten Band nun wirklich nicht beschreiben. Wilfrid Lupano (großartiges Szenario) und Paul Cauuet (tolle Zeichnungen) zeichnen uns eine Welt, die auch den Jüngeren unter uns dereinst bevorsteht, eine Welt, in der man morgens aufsteht und weiß, dass Man(n) – oder Frau – am Leben ist, weil irgend etwas weh tut. Und sie tun dies mit einer gehörigen Prise Humor, der manchmal subtil, manchmal aber auch mit dem Holzhammer daher kommt.
Freundschaft, Vergangenheit und ein Brief zu viel
Wie bereits erwähnt sind Pierrot, Mimile und Antoine Freunde seid Jugendtagen. Ihre Anfänge erleben wir im Verlauf des Albums in wenigen, schön in schwarz-weiß gehaltenen Rückblenden.
Die Gegenwart ist zwar bunt, der heutige Tag selbst ist aber ein schwarzer Tag. Er ist der von Lucette’s Beerdigung. Lucette war die Frau von Antoine, früher ein ganz heißer Feger, immer schon eine Frau mit einer eigenen Vorstellung davon, was ihr wichtig war und der Tatkraft, an dieser Vorstellung aktiv zu arbeiten.
Wir erleben wie Pierrot sich in einen neuen schwarzen Anzug schmeißt, seine komplett zugesch*ssene Rostlaube von Auto startet – die mit Heizöl statt mit Benzin zu fahren scheint – und sich ohne jegliches Gespür für die Feinheiten der sozialen Interaktion im Straßenverkehr auf den Weg macht, um Emile (genannt Mimile) in dessen Seniorenresidenz abzuholen.
Lupano & Cauuet: Meister der Alterskomik
Alleine auf diesen beiden Seiten bringen Lupano und Cauuet mit scharfer Beobachtungsgabe und beißendem Witz so viele Klischees über das Alt-Sein unter, dass sich der geneigte Leser fragt, was da wohl noch alles kommt: eine „zugemüllte“ Junggesellenbude, die obligatorischen Pantoffeln, das besagte / betagte Auto, ein Seniorenheim mit Rollatoren in dem sogar die Pflanzen ihre Blätter hängen lassen und in dem viel zu tiefe Sessel stehen – also eine Welt, bei der man sofort auch einen gewissen Geruch in der Nase hat!
Ein Tag, ein Anzug, eine Beerdigung … und ein Road-Trip beginnt
Natürlich hat Mimile den Termin total vergessen und ist vollkommen unvorbereitet. Was dazu führt, dass die Beiden mit Verspätung starten und die Einäscherung trotz Pierrot’s Fahrstil verpassen. Auf der Trauerfeier angekommen, erfahren sie schließlich, dass Antoine am folgenden Tag einen Termin beim örtlichen Notar hat, in dem ihn u.a. ein Brief seiner verstorbenen Frau erwartet. Und dieser Brief hat es in sich.
Die weiteren Ereignisse führen dazu, dass sich die Freunde zusammen mit Antoine’s schwangerer Enkelin Sophie auf den Weg in die Toskana machen, um das besagte Verbrechen aus Leidenschaft zu verhindern. Und zack – wird aus einem Senioren-Drama ein urkomischer Road-Trip.
Alt, anarchisch, anders: Die Protagonisten im Porträt
Erste Bände haben immer die schwere Aufgabe, die Figuren einzuführen und sie zu charakterisieren. Lupano erzählt uns die Geschichte linear und überwiegend aus Sicht von Pierrot, aber keiner der Protagonisten kommt bei der Darstellung zu kurz. Ganz im Gegenteil. Jede der Hauptfiguren ist individuell und wunderbar herausgearbeitet.
Pierrot ist ein linker, zynischer Anarchist. Er kämpft gegen „das System“ und nutzt seine Schläue, um diesem System mit unterschiedlichsten Mitteln Sand ins Getriebe zu streuen. Cauuet Zeichnungen lassen ihn wie einen Geier aussehen, der mit seinem spitzen Schnabel dieses System lustvoll fleddern will.
Mimile hingegen ist der behäbige Weltenbummler des Trios. Seine Welt ist die weite Welt, in der er viel gereist ist, nur um im Alter doch in einem Seniorenheim zu landen. Dies hält ihn aber nicht davon ab, in der Nähe jeder Willigen des anderen Geschlechts Unmengen seines Charmes zu versprühen.
Und Antoine? Nun, er hat als Gewerkschaftler versucht, ein System zum Besseren zu ändern, welches Pierrot bekanntlich subversiv bekämpft. Seine Welt war im Gegensatz zu der von Mimile klein: die Firma, die Gewerkschaft, Frau und Familie. Und doch hat es sich für ihn nicht wirklich gelohnt, Letztere zu Gunsten Ersterer zu vernachlässigen. Er hat sich daran aufgerieben.
Lupano schafft es auf wenigen Seiten, den Charakteren Leben einzuhauchen, ihre Komplexität zu zeigen, ihnen eine Vergangenheit zu geben und uns hoffen zu lassen, dass sie noch eine lange Zukunft haben mögen. (Wir sind inzwischen bei Band 8 der Reihe. Ende offen!) Doch ist keine der Figuren verbittert. Sie sprühen geradezu vor Lebensfreude und -willen.
Alter als Haltung – nicht als Zustand
Und genau das ist die Besonderheit der ALTEN KNACKER. Sie alle sind selbstbewusst, haben ihr Leben gelebt, sind optimistisch und unter der harten, zynischen Schale auf ihre jeweilige Art eine Seele von Mensch. Liebenswert, grummelig und schrullig, aber niemals steif, weder körperlich noch geistig: eine großartige Kombination!
Cauuet verleiht ihnen mit seinen klaren, starken Strich Charakter. Die Mimik und die Körpersprache sind nahe an der morbiden Realität. Der Seitenaufbau ist dabei klassisch und passt zu den konservativen Herren. Das Pacing der Geschichte ist alles andere als gemächlich und kontra kariert das Alter der Protagonisten. Das Setting ist genial und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die ALTEN KNACKER in einer anderen Zeit als Comic-Strip in einer Zeitung Erfolge gefeiert hätten. Aber, nun ja, tempus fugit.
Fazit: Acht Bände später … und kein Ende in Sicht
Wie gesagt: ich war gewarnt! Und jetzt? Jetzt bin ich angefixt. Die Freude, dass inzwischen weitere sieben Bände existieren, die ähnlich gute Unterhaltung versprechen, steht im Gegensatz zum geringen Platz im heimischen Comic-Regal. Vielleicht hilft ja ein wenig umräumen … ? Wenn dann noch die kleineren Ausgaben oben auf gelegt werden … und die Biographien von Uderzo und Takamoto ins andere Regal umziehen … ja, doch … dann … dann könnte es gehen. Nun ja, wir werden sehen …
Jedenfalls sind DIE ALTEN KNACKER die fulminantesten, sowohl das Herz als auch den Verstand ansprechenden Botschafter sequentieller Kunst. Und P.S.: DIE ALTEN KNACKER haben sogar eine eigene Website.
DIE ALTEN KNACKER – 1. Die übrig bleiben
© Splitter Verlag| Hardcover | 64 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★★★
Zeichnungen: ★★★★★
Lettering: ★★★★★
Humor: ★★★★★(★★)
Meine persönliche Bewertung: ★★★★★(★)
ISBN: 978-3-95839-147-5
Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.
Die Bände der Reihe