Die LIEBE, die Zeit und alles Andere – TROTZ ALLEM

Jordi Lafebre (Wundervolle Sommer, Lydie u.a.) ist ein Künstler und „Trotz allem … Liebe“ ein ungewöhnlicher und aufgrund seiner Erzählstruktur aber auch ein meisterhaft gestalteter Comic.

Er erzählt die komplexe Geschichte der beiden Protagonisten Zeno (einem charmanten Wissenschaftler und Buchhändler) und Ana (der Bürgermeisterin seines Ortes, die auch Ehefrau – aber nicht seine – und Mutter ist), von ihrer Liebe zueinander, der verstreichenden Zeit und ihrer persönlichen, tiefen Verbindung auch über weite Entfernungen hinweg. Was diese Liebesgeschichte allerdings einzigartig macht, ist ihre umgekehrt-chronologische Struktur.

Die Geschichte beginnt damit, dass die Protagonisten in ihren späteren Jahren, nach fast vier Jahrzehnten Beziehung, ihr Happy End finden und entwickelt sich in der Folge Kapitel für Kapitel zurück, zu den Anfängen ihrer Beziehung. Das Konstrukt Zeit wird auf den Kopf gestellt, was sich auch im schönen Cover ausdrückt, welches das auf den Kopf gestellte Spiegelbild der Protagonisten in der Regenpfütze darstellt.

Von diesem Ausgangspunkt aus nimmt Lafebre uns mit auf eine Zeitreise zu den Anfängen der Beziehung und erkundet die miteinander verflochtenen Leben von Ana und Zeno. Diese Erzählung erzeugt eine faszinierende Dynamik, die es uns ermöglicht, das Geheimnis ihrer Beziehung Stück für Stück mitzuerleben. Wir wissen, dass sie ineinander verliebt sind und dass es ein Happy-End gibt. Aber das stört uns nicht. Im Gegenteil: die Struktur fügt dem, was sonst eine geradlinige Romanze sein könnte, weitere, komplexe Schichten hinzu.Über 20 Kapitel erleben wir, wie sich die Liebe der Beiden entwickelt und gefestigt hat.

Ein faszinierendes Elemente der Handlung ist Zeno’s Reise zum Polarkreis, um seine wissenschaftliche Theorie über die Möglichkeit von Zeitreisen zu erforschen. Diese Nebenhandlung verleiht seinem Charakter zusätzliche Tiefe, dient Lafebre aber auch als clevere Metapher für die Erzählstruktur des Comics selbst und verstärkt das Thema Zeit und ihre Formbarkeit in der menschlichen Erfahrung zusätzlich.

Lafebre’s Illustrationen sind Eckpfeiler von „Trotz allem … Liebe“. Sein Hintergrund als Charakterdesigner zeigt sich in den nuancierten und ausdrucksstarken Darstellungen der Charaktere. Jedes Panel ist sorgfältig gestaltet, wobei sowohl den Charakteren als auch ihrer Umgebung Aufmerksamkeit geschenkt wird, wodurch ein reichhaltiges, visuelles Erlebnis entsteht.

Der Stil des Künstlers ist sowohl klassisch als auch dynamisch. Lafebre verwendet eine klare Linientechnik, die an die französisch-belgische Comic-Tradition erinnert ohne jedoch echte Ligne-Claire zu sein. Seine Charaktere sind ausdrucksstark, lebendig und vermitteln durch subtile Veränderungen in Gesichtsausdrücken und Körpersprache eine breite Palette von Emotionen.

Lafebre hat das Talent, mit nur wenigen Federstrichen unvergessliche Charaktere zu erschaffen. Jeder Charakter, egal wie unbedeutend, fühlt sich an, als hätte er ein vollständiges Leben jenseits der Seiten des Comics. Der Kern jeder Figur bleibt gleich, und doch sehen wir, wie Lebenserfahrungen sie im Laufe der Zeit geprägt haben.

Sein Hintergrund im Charakterdesign zeigt sich im unverwechselbaren Aussehen und der Persönlichkeit jedes Charakters. Lafebre’s Charaktere sind nicht nur optisch ansprechend, sondern auch sofort erkennbar und einprägsam. Diese Fähigkeit ist entscheidend in einer Geschichte, die sich über Jahrzehnte erstreckt und Charaktere in verschiedenen Stadien ihres Lebens zeigt. Für Ana hatte er mit Sicherheit Audrey Hepburn vor Augen. Für Zeno? Wer weiß, vielleicht eine männliche Variante (Andrew Hepburn)?

Trotz der umgekehrten chronologischen Reihenfolge wachsen und entwickeln sich die Charaktere. Sie entwickeln sich auf eine Weise, die sich natürlich und ansprechend anfühlt. Zeno und Ana sind voll entwickelte Individuen, jeder mit seinen eigenen Stärken, Schwächen und Macken. Gleiches gilt für die Nebendarsteller, die ebenso gut entwickelt sind.

Einer der beeindruckendsten Aspekte von Lafebre’s visuellem Geschichten-Erzählen ist seine Fähigkeit, den Lauf der Zeit darzustellen. Während sich die Geschichte rückwärts bewegt, werden die Charaktere allmählich jünger, eine anspruchsvolle Leistung, die Lafebre mit bemerkenswertem Geschick vollbringt. Die Veränderungen sind subtil, aber dennoch spürbar, wodurch die Charakterkonsistenz erhalten bleibt, gleichzeitig aber die Auswirkungen der Zeit deutlich sichtbar werden.

Die emotionale Tiefe der Geschichte wird nicht nur durch Dialoge und Handlungen vermittelt, sondern auch durch die stillen Momente und
bedeutungsvolle Blicke. Das Ergebnis ist ein reichhaltiges, emotional nachklingendes Werk, das zu mehrmaligem Lesen einlädt.

Der Comic befasst sich auch mit dem Thema von „War es Schicksal?“ oder „Hast Du eine Wahl?“. Als Leser kennen wir das endgültige Ergebnis der Beziehung zwischen Zeno und Ana, aber wenn wir ihre früheren Interaktionen beobachten, werden manche Fragen über die Rolle von Zufall und Entscheidung bei der Gestaltung unseres Lebens aufgeworfen. Lafebre behandelt diese Themen subtil und der Gesamterzählung angemessen.

Lafebre verwendet ein warmes, einladendes Farbschema, das die emotionale Resonanz der Geschichte verstärkt. Die Farben verändern sich subtil, während sich die Erzählung durch verschiedene Zeiträume bewegt, und fügen dem Werk eine weitere Ebene visuellen Geschichten-Erzählens hinzu.

Der Detailgrad in Lafebre’s Hintergründen ist wie bereits erwähnt hoch, falls es für die Geschichte wichtig scheint. Jede Kulisse fühlt sich bewohnt und real an, von geschäftigen Stadtstraßen bis hin zum gemütlichen Buchladen. Diese Liebe zum Detail hilft, die Geschichte zu erden und eine glaubwürdige Welt für die Charaktere zu erschaffen.

„Trotz allem … Liebe“ ist ein Triumph des Comic-Geschichten-Erzählens. Jordi Lafebre hat ein Werk geschaffen, das sowohl visuell auf hohem Niveau als auch erzählerisch komplex ist und die Grenzen dessen erweitert, was in diesem Medium erreicht werden kann.

Die umgekehrte chronologische Struktur ist herausfordernd und erinnert ein Wenig an an den Film „Memento“ von Christopher Nolan mit Guy Pearce in der Hauptrolle. Sie verleiht der Liebesgeschichte im Mittelpunkt des Comics aber Tiefe und Faszination.

Lafebre’s Können als Autor und Künstler ist in seinem gesamten Werk deutlich zu erkennen. Seine Charaktere sind vollständig ausgearbeitet und
nachvollziehbar, seine Handlung ist komplex und befriedigend und seine Zeichnungen einfach wunderschön. Die emotionale Resonanz der Geschichte – kombiniert mit der cleveren Erzählstruktur – sorgt für ein Leseerlebnis, das sowohl intellektuell anregend als auch tief bewegend ist.

Also, alles super? Fast.

Persönlich hat mir die Aufteilung der Panels nicht gut gefallen. Die Seiten bestehen mit Ausnahme derjenigen, in denen Briefe die Entfernung zwischen den Protagonisten überbrücken, fast ausschließlich aus Quadraten. Hier hätte Lafebre – abseits der Aufteilung von 2 x 6 Panels pro Seite – zusätzliche Dynamik in sein Werk integrieren können. Ich verstehe aber auch, dass dieses Vorgehen die Langeweile der Außenwelt und die Emotionalität des jeweiligen Innenlebens kontrastiert und die Geschichte damit emotional belebt. Und natürlich hat dieses Design bei der Erstellung der Panels und der Reihenfolge derselben produktionstechnische Vorteile. Ergo: geschenkt!

Dies ist ein Werk, das nicht nur extrem gut unterhält, sondern uns auch zum Nachdenken über die Natur der Liebe, der Zeit und der Entscheidungen einlädt, die unser Leben geprägt haben und noch prägen werden.

Eine absolute Kaufempfehlung!


Trotz allem … Liebe
© Splitter-Verlag | Hardcover | 152 Seiten | Farbe
Storyline:  ★★★★★
Zeichnungen:  ★★★★★
Lettering:  ★★★★☆
Humor:  ★★★☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★★
ISBN: 978-3-96792-136-6
Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.

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