Ich war schon immer ein Freund gut geschriebener Kriminal-Literatur. Sherlock Holmes, Miss Marple und Hercule Poirot sind meine Helden. So war es auch nicht verwunderlich, dass ich beim ersten Blick auf das hier zu besprechende Werk sofort angefixt war. Denn:
GREEN MANOR ist eine köstliche Verbeugung vor dem klassischen britischen Kriminalroman, garniert mit einer ordentlichen Prise makaberem Witz und illustriert als visueller Augenschmaus, der gleichermaßen detailverliebt wie charmant daherkommt.
Gentlemen, Gift und Genialität
Im viktorianischen London, einer Stadt voller Nebel, Sitte und Mordlust, liegt der exklusive GREEN MANOR Herren-Club, wo die feine – natürlich männliche – Gesellschaft ihren niederen Instinkten frönt. Hier wird nicht nur Brandy getrunken und Zigarre geraucht, sondern auch der perfekte Mord diskutiert, geplant und gelegentlich ausgeführt, während die Moral ganz am Ende der Speisekarte steht. Man ist schließlich die Upper-Class.
Die Autoren liefern uns einzelnen Kurzgeschichten, die wie kleine, pointierte Häppchen angerichtet sind, dabei stets überraschend und häufig sehr schwarz-humorig.
Fabien Vehlmann inszeniert die makaberen Eskapaden der Clubmitglieder meisterhaft und spielt dabei virtuos mit Elementen des klassischen Whodunit, so dass selbst ein gewisser Arthur Conan Doyle nicht verschont bleibt. Ganz im Gegenteil wird er sogar zum Ziel eines mörderischen Komplotts.
Von mordlustigen Mathematikern über zeitreisende Gentlemen bis hin zu wahnsinnigen Butlern reicht der Reigen der unvergesslichen Figuren. Die einzelnen Episoden sind in diesem Buch durch eine Rahmenhandlung verbunden, in der ein Butler und ein Psychiater in der Irrenanstalt die düsteren Geschichten von GREEN MANOR rekonstruieren.
Vehlmann und die Lust an der List
Fabien Vehlmann (ALLEIN, DIE INSEL DER 100.000 TOTEN, JENSEITS) ist bekannt für seine verspielten, aber tiefgründigen Erzählungen, die oft am Rande des Abgrunds balancieren, ohne in die Klischeefalle zu tappen. Mit seinen Episoden von SPIROU & FANTASIO ist er längst in der Riege der großen frankobelgischen Erzähler angekommen, zeigt mit den hier besprochenen Geschichten aber auch, dass er Narrative jenseits der Funnies zu bieten hat.
Seine Geschichten schöpfen aus dem riesigen Fundus historischer Kriminalromane, dennoch bleibt seine Handschrift unverkennbar. Seine Sittengemälden bieten Ironie, ein Hauch Zynismus und Dialoge, die Funken schlagen. In GREEN MANOR vereint er all seine Qualitäten und setzt – nicht zuletzt im Spiel mit Erwartungshaltungen und durch raffinierte Plot-Twists am Ende vieler Episoden – immer wieder neue stilistische Akzente.
Bodart’s Schattenreich
Sein Partner-in-Crime, Denis Bodart, illustriert GREEN MANOR mit einer Eleganz und Detailverliebtheit, die sich selten findet. Sein Stil bewegt sich zwischen karikaturhafter Überzeichnung und realistischer Präzision, was den makaberen Pointen die nötige Leichtigkeit verleiht. Die Figuren vom steifen Gentleman bis zum exzentrischen Mörder wirken trotz ihrer grotesken Züge lebendig und auf ihre Art glaubwürdig.
Bodart spielt mit Licht und Schatten. Er verleiht dem viktorianischen London der Jahrhundertwende atmosphärische Dichte und setzt gezielt kleine visuelle Gags, die das Schwarz-humorige der Geschichten unterstreichen.
Besonders in den exklusiven Bonus-Skizzen der Gesamtausgabe zeigt sich sein Talent, Charaktere noch „zwischen den Panels“ zum Leben zu erwecken.
Holmes, Wells und die Mörder im Club
GREEN MANOR spielt gekonnt auf die Traditionen viktorianischer Krimi-Literatur an: Arthur Conan Doyle, Agatha Christie und H.G.Wells lassen grüßen. Die Geschichten zitieren diese Genre-Größen nicht nur durch Figuren und Schauplätze, sondern übernehmen auch deren strukturelle Finessen durch Pointen, die sitzen, und Lösungen, die überraschen.
Die Zeitreise-Elemente und mathematischen Rätsel lehnen sich an die literarische Tradition von Wells und Conan Doyle an und spiegeln eine Epoche wider, in der Wissenschaft und Okkultismus oft noch eng beieinander lagen. Wer sich für britische Gesellschaftsgeschichte interessiert, wird in GREEN MANOR ebenso fündig wie Krimi-Liebhaber, die gerne mitknobeln möchten.
Episoden einer feinen Gesellschaft
GREEN MANOR ist zwar eine Serie, aber kein klassischer Fortsetzungscomic. Die Geschichten bilden vielmehr eine lose verbundene Sammlung von Episoden. Die einzelnen Geschichten erschienen ab 1998 ursprünglich in der belgischen SPIROU und ab 2003 auch in der deutschen ZACK. Später wurden sie erstmals für die Gesamtausgabe ergänzt und erweitert, inklusive nie zuvor veröffentlichter Episoden und Bonusmaterial.
Das Besondere: Jede Episode steht für sich, aber zusammen ergeben sie ein Bild einer dekadenten und abgründigen Welt des GREEN MANOR Herren Clubs, eines Universums, das wahrlich seinesgleichen sucht. Der episodenhafte Charakter erlaubt es auch Gelegenheitslesern, spielerisch und ohne Vorwissen in die Reihe einzusteigen.
Die große Bühne der kleinen Verbrechen
Vehlmann und Bodart haben sich mit GREEN MANOR ein kleines Denkmal gesetzt. Wer Vehlmann kennt, wird seine Hand in den psychologisch ausgefeilten Dialogen erkennen. Wer Bodart schätzt, wird die filigranen Zeichnungen loben, die nicht nur die Atmosphäre, sondern auch die Charaktere selbst zum Sprechen bringen. (So wurde ich übrigens auf dieses Album aufmerksam.)
Im Vergleich zu anderen Werken beider Künstler – etwa SPIROU & FANTASIO oder NELLY NIKOTIN – erweist sich GREEN MANOR als das wahnwitzige Kleinod ihrer Schaffensgeschichte. Die Anspielungen auf literarische Größen und die glänzend inszenierte Morbidität machen diesen Comic absolut lesenswert.
Fazit
GREEN MANOR verbindet brillante Kriminalunterhaltung mit satirischer Tiefe und einem rundum gelungenen visuellen Stil. Die Episoden sind pointiert, die Qualität gleichbleibend hoch und selbst nach dem dritten Durchgang bleibt die Lust, den Band noch einmal zur Hand zu nehmen. Ja, GREEN MANOR ist ein wahrer Schatz für Comic-Verrückte und Genußleser. Kleiner Wermutstropfen: Die Kürze mancher Geschichten lässt einen manchmal hungrig zurück, doch andererseits liegt gerade darin die Stärke des Werks.
Diese Gesamtausgabe vereint alle achtzehn bis dato erschienenen Kurzgeschichten, darunter zwei in deutscher Erstveröffentlichung. Hinzu kommen noch die Rahmenhandlungen um den Psychiater Doktor Thorne, zahlreiche Abbildungen und Illustrationen sowie ein umfangreicher Skizzenteil des Zeichners Denis Bodart. Dabei umfasst die deutsche Edition sogar 32 Seiten mehr als die französische Originalfassung. [Verlagstext]
Wer den britischen Humor, geistreiche Krimi-Kost und künstlerische Finessen schätzt, bekommt mit dieser großartigen Gesamtausgabe aus dem Piredda Verlag das perfekte Paket. Also: Hemdsärmel hoch, Krimi-Pfeife angefacht und mit einem warmen Tee hinein ins makabere Treiben. Eine eigene Club-Mitgliedschaft ist nicht notwendig.
SHERLOCK mit Benedict Cumberbatch oder ELEMENTARY mit John Lee Miller können wir uns im Anschluss ja immer noch einmal anschauen…
GREEN MANOR Gesamtausgabe
© Pirreda Verlag | Hardcover | 192 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★★★
Zeichnungen: ★★★★☆
Farben: ★★★☆☆
Lettering: ★★★☆☆
Humor: ★★★★☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★☆
ISBN: 978-3-941279-52-0
Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.