Im Zentrum von SOMNA – EINE GUTENACHTGESCHICHTE steht Ingrid, eine Frau im England des frühen 17. Jahrhunderts. Sie gefangen in einer Welt, die von puritanischer Enge, Aberglauben und der allgegenwärtigen Angst vor Hexerei geprägt ist.
Ihr Ehemann Roland ist nicht nur der Stadtvogt, sondern auch der führende Hexenjäger des Dorfes. Er ist ein Mann, dessen Kreuzzug gegen vermeintliche Ketzer das Dorf in einen Strudel aus Misstrauen und Gewalt reißt. Ingrid selbst ist unglücklich in ihrer Ehe, gefangen zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und eigenen Sehnsüchten.
Die Handlung nimmt Fahrt auf, als ein prominentes Mitglied der Dorfgemeinschaft ermordet aufgefunden wird. Roland nutzt den Vorfall, um seine Hexenjagd noch erbarmungsloser voranzutreiben. Niemand ist mehr sicher, auch Ingrid nicht. Während sie versucht, das Geheimnis um den Mord zu lüften, wird sie von einer schattenhaften Gestalt heimgesucht, die sie nachts in ihren Träumen besucht.
Diese Begegnungen sind gleichermaßen bedrohlich wie verführerisch. Ist der nächtliche Besucher ein Dämon, ein Produkt ihrer unterdrückten Wünsche oder gar der Schlüssel zu ihrer Befreiung? Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen zunehmend und Ingrid gerät immer tiefer in einen Strudel aus Begierde, Angst und dunkler Magie.
Ganz normaler Horror
SOMNA – EINE GUTENACHTGESCHICHTE spielt virtuos mit Elementen des Folk Horror und verbindet historische Realität mit sinnlicher, übernatürlicher Spannung. Die Geschichte bleibt dabei stets vielschichtig und vermeidet einfache Antworten. Ingrid steht für die Sehnsucht nach Selbstbestimmung, aber auch für die Gefahren, die mit dem Ausbruch aus gesellschaftlichen Zwängen einhergehen.
Die Atmosphäre ist dicht, die Bedrohung allgegenwärtig und doch schwingt immer eine verführerische Note mit, die den Comic von klassischen Hexenverfolgungsgeschichten abhebt. Und doch ist SOMNA tief verwurzelt in der Geschichte der europäischen Hexenverfolgung, die wohl zwischen 40.000 und 60.000 Opfer forderte.
Zwei Visionärinnen, ein Comic
Becky Cloonan und Tula Lotay sind keine Unbekannten in der Comic-Welt, im Gegenteil. Beide haben sich längst als Ausnahmetalente etabliert. Cloonan, bekannt für Werke wie BY CHANCE OR PROVIDENCE und ihre Beiträge zu WONDER WOMAN, steht für atmosphärische, kraftvolle Erzählungen mit einem Hang zum Düsteren. Ihr Stil ist geprägt von klaren Konturen und einer Vorliebe für die Abgründe der menschlichen Seele.
Tula Lotay (eigentlich Lisa Wood) ist vor allem für ihre Arbeiten an BARNSTORMERS und zahlreiche Cover-Illustrationen für DC und Image Comics bekannt. Ihr Markenzeichen ist ein weicher, fast träumerischer Stil, der mit Farben und Licht spielt und die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen lässt. Lotay ist Mitbegründerin des THOUGHT BUBBLE FESTIVALS, einer der wichtigeren Comic-Conventions Europas und hat sich auch als Innovatorin einen Namen im Bereich des grafischen Erzählung gemacht. Lotay liebt das Surreale, das Sinnliche. Genau das macht sie zur perfekten Partnerin für dieses Projekt.
SOMNA ist das erste große Gemeinschaftswerk der beiden Künstlerinnen, die hier nicht nur gemeinsam schreiben, sondern auch jeweils eigene Kapitel illustrieren. Cloonan übernimmt die Tages- und Realweltszenen, Lotay die Nacht- und Traumsequenzen. Diese bewusste Trennung hebt die unterschiedlichen Perspektiven hervor und sorgt für einen spannenden visuellen Kontrast, der die thematische Dualität von SOMNA unterstreicht.
Die Zusammenarbeit der beiden ist das Ergebnis einer langen Freundschaft und kreativen Verbundenheit. Die Idee zu SOMNA soll bereits vor über zehn Jahren entstanden sein, als beide auf einem schwedischen Comic-Event gemeinsam auf einem Wikinger-Grabhügel standen und sich ein Versprechen gaben, irgendwann zusammenzuarbeiten.
Diese kreative Synergie ist auf jeder Seite spürbar. SOMNA lebt vom Wechselspiel der Stile, von der gegenseitigen Inspiration und dem Mut, erzählerische und künstlerische Grenzen auszuloten.
Zwischen Sinnlichkeit und Schrecken
SOMNA – EINE GUTENACHTGESCHICHTE hebt sich deutlich von klassischen Horror-Comics ab. Der Band ist ein Paradebeispiel für modernen Folk Horror, inspiriert von Filmen wie MIDSOMMAR oder THE WITCH. Die Geschichte nutzt historische Kulissen nicht nur als Hintergrund, sondern als Spiegel für zeitlose Themen wie z.B. weibliche Selbstbestimmung, Unterdrückung, Angst vor dem Fremden und die Macht der Begierde.
Eine der größten Neuerungen ist der bewusste Wechsel der Zeichenstile. Cloonan’s klare, fast strenge Linien stehen für die harte Realität des Dorflebens, während Lotay’s weiche, verschwommene Bilder für die verführerische, aber auch gefährliche Welt der Träume und Sehnsüchte stehen. Im Verlauf der Handlung verschmelzen beide Stile immer mehr. Ein künstlerischer Kniff, der die zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit spiegelt.
Auch inhaltlich geht SOMNA neue Wege. Die explizite, aber nie platte Darstellung von Erotik ist integraler Bestandteil der Geschichte. Die sinnlichen Szenen sind nicht Selbstzweck, sondern Ausdruck von Ingrids innerem Konflikt und ihrer Suche nach Freiheit. Die Künstlerinnen scheuen sich nicht, Tabus zu brechen und mit der Ambivalenz von Lust und Angst zu spielen. Allerdings sind diese Darstellungen auch die Grundlage für die FSK-Einstufung 18+.
Zwischen Tag und Traum
Die Erzählstruktur von SOMNA – EINE GUTENACHTGESCHICHTE ist bewusst zweigeteilt. Tagsüber dominiert die beklemmende Realität des Dorflebens, nachts öffnet sich der Raum für Träume, Sehnsüchte und Übernatürliches. Diese Dualität wird nicht nur thematisch, sondern auch visuell konsequent umgesetzt. Die Wechsel zwischen den Welten sind fließend, die Grenzen verschwimmen. Und genau das macht den Reiz des Werkes aus.
Die Geschichte folgt keinem klassischen Spannungsbogen, sondern setzt auf eine dichte, atmosphärische Entwicklung. Vieles bleibt angedeutet, Fragen werden aufgeworfen, aber selten endgültig beantwortet. Das erzeugt eine permanente Unruhe, ein Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung, was perfekt zum Thema passt. Wir werden eingeladen, selbst zu interpretieren, was real ist und was nicht.
Ingrid’s Perspektive, ihre Ängste und Wünsche treiben die Story. Die Nebenfiguren, allen voran Ehemann Roland, sind mehr als bloße Stichwortgeber. Sie verkörpern die gesellschaftlichen und persönlichen Konflikte, die Ingrid zu zerreißen drohen. Der Plot ist dabei weniger ein Rätselkrimi als ein psychologisches Kammerspiel, das die Leser mit seiner Vielschichtigkeit fordert und fesselt.
Keine Helden, keine Monster
Im Mittelpunkt von SOMNA steht eine Protagonistin, die sich durch ihre Ambivalenz und Vielschichtigkeit auszeichnet. Ingrid ist weder klassische Heldin noch reines Opfer. Sie ist eine Frau, die zwischen Angst, Begierde und dem Wunsch nach Selbstbestimmung schwankt. Ihre Entwicklung ist subtil, glaubwürdig und nachvollziehbar. Sie wächst an ihren Erfahrungen, wird mutiger, aber auch verletzlicher.
Demgegenüber ist Roland, ihr Ehemann, mehr als nur der Antagonist. Er verkörpert die Zwänge und Ängste einer Gesellschaft, die alles Fremde und Unangepasste bekämpft und dabei selbst zum Monster wird. Die Beziehung zu seiner Frau ist von Macht, Kontrolle und Misstrauen geprägt, aber auch von einer tragischen Unfähigkeit zur Nähe.
Die schattenhafte Gestalt, die Ingrid heimsucht, bleibt bewusst rätselhaft. Ist sie ein Dämon, ein Befreier oder das Spiegelbild von Ingrids unterdrückten Sehnsüchten? Diese Unklarheit macht den Reiz der Figur aus und sorgt dafür, dass SOMNA nie in einfache Schwarz-Weiß-Muster verfällt.
Auch die Nebenfiguren sind sorgfältig gezeichnet. Sie spiegeln die Spannungen und Ängste der Dorfgemeinschaft, ohne zu bloßen Karikaturen zu verkommen. Die Charakterentwicklung ist insgesamt ein großer Pluspunkt des Comics. Selten wurde innere Zerrissenheit so einfühlsam und gleichzeitig so verstörend dargestellt.
Farben, Formen, Fantasien
SOMNA – EINE GUTENACHTGESCHICHTE ist großartig bebildert. Die Zeichnungen sind nicht nur Mittel zum Zweck, man könnte sie als eigenständige Erzählerinnen betrachten.
Becky Cloonan und Tula Lotay setzen bewusst auf Kontraste. Cloonan’s Panels sind klar, strukturiert und geerdet. Sie fangen das harte, oft brutale Dorfleben ein. Lotay’s Seiten hingegen sind weich, verschwommen und voller sinnlicher Details. Sie machen das Unbewusste, das Traumhafte sichtbar.
Die Farbgebung von Lee Loughridge (STAND STILL), Dee Cunniffe (SENSATIONAL SHE-HULK, DAREDEVIL) und Tula Lotay selbst verstärkt diesen Effekt. Tagsüber dominieren erdige, gedeckte Töne, nachts explodieren die Farben in leuchtenden, fast psychedelischen Varianten. Besonders beeindruckend ist, wie beide Stile im Verlauf der Geschichte immer mehr ineinander fließen.
Die Panels sind dynamisch gestaltet, mit ungewöhnlichen Perspektiven und fließenden Übergängen. Die erotischen Szenen sind kunstvoll, aber nie voyeuristisch. Vielmehr sind sie Ausdruck von Ingrid’s innerer Zerrissenheit. Auch kleine Details (wie etwa die Anspielungen auf klassische Gemälde wie das von Johann Heinrich Füssli DER NACHTMAHR) zeigen, wie viel Liebe und Sorgfalt in SOMNA steckt.
Hexen, Aberglauben und Historie
SOMNA – EINE GUTENACHTGESCHICHTE spielt nicht zufällig zur Zeit der Hexenverfolgungen. Der Comic nutzt das historische Setting, um zeitlose Fragen zu stellen. Was passiert, wenn Angst und Aberglaube über Vernunft und Mitgefühl siegen? Wie schnell werden gesellschaftliche Außenseiter zu Sündenböcken? Die Parallelen zu heutigen Debatten um Ausgrenzung und Kontrolle sind unübersehbar und der Zeitpunkt für eine deutsche Veröffentlichung des Werkes könnte nicht besser sein.
Der Comic bleibt dabei nah an historischen Fakten. Die Atmosphäre im Dorf, die Rituale der Hexenprozesse, die Rolle der Frauen: all das ist sorgfältig recherchiert und glaubwürdig umgesetzt. Gleichzeitig erlaubt sich SOMNA künstlerische Freiheiten, um die psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen hinter der Hexenjagd zu thematisieren.
Die Anleihen an den Folk Horror sind nicht nur ästhetischer Natur, sondern auch inhaltlich fundiert. Wie in MIDSOMMAR oder THE WITCH steht die Konfrontation mit dem Unheimlichen, dem Fremden im Mittelpunkt. SOMNA zeigt, wie dünn der Firnis der Zivilisation sein kann und wie schnell sich Angst in Gewalt verwandelt.
Kein Serienprodukt, aber ein Statement
SOMNA – EINE GUTENACHTGESCHICHTE ist kein Teil einer klassischen Serie, sondern ein in sich abgeschlossenes Werk. Allerdings steht der Comic in einer Reihe von Veröffentlichungen, die sich dem modernen Folk Horror und der künstlerischen Grenzüberschreitung verschrieben haben. Für Becky Cloonan und Tula Lotay ist SOMNA das erste große Gemeinschaftsprojekt, aber beide haben bereits zuvor mit ähnlichen Themen und Stilen experimentiert.
Die Einflüsse aus ihren früheren Arbeiten sind deutlich spürbar. Cloonan’s BY CHANCE OR PROVIDENCE und Lotay’s BARNSTORMERS sind ebenfalls geprägt von starken Frauenfiguren, düsterem Setting und einer Vorliebe für das Übernatürliche. SOMNA ist somit eine logische Weiterentwicklung und künstlerisches Statement zugleich.
Für Fans der Künstlerinnen bietet SOMNA jede Menge Wiedererkennungswert und doch ist der Comic eigenständig genug, um auch Comic-Neulinge zu begeistern. Wer nach SOMNA mehr will, findet im Werk der beiden zahlreiche Anknüpfungspunkte.
Ein dunkles Märchen für Erwachsene
SOMNA – EINE GUTENACHTGESCHICHTE ist ein Ausnahme-Comic, der sich mutig zwischen die Stühle setzt. Folk Horror trifft Erotik, historische Realität auf surreale Traumwelten. Die Zusammenarbeit von Becky Cloonan und Tula Lotay ist ein Glücksfall für das Medium Comic. Selten wurden Angst, Begierde und Selbstbefreiung so kunstvoll und vielschichtig erzählt.
Der Comic ist allerdings nichts für schwache Nerven oder zarte Gemüter. Die Themen sind düster, die Bilder explizit, die Atmosphäre beklemmend. Aber genau das macht SOMNA so besonders. Wer sich auf diese Reise einlässt, wird mit einer Geschichte belohnt, die nachhallt und die Lust auf mehr macht.
Ob Comic-Profi oder Gelegenheitsleser, SOMNA ist ein Muss für alle, die Comics als Kunstform ernst nehmen und die bereit sind, sich auf neue, ungewohnte Wege einzulassen. Wer sich traut, sollte zugreifen und sich von SOMNA in den Bann ziehen lassen. Auch wenn Frau danach sicher froh ist, dass sie nicht in dieser Zeit gelebt hat …

SOMNA – EINE GUTENACHTGESCHICHTE
© Cross Cult Verlag | Hardcover | 168 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★★☆
Zeichnungen: ★★★★☆
Lettering: ★★★☆☆
Humor: ☆☆☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★☆
ISBN: 978-3-98666-714-6
Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.