In INDIEN – ÖL INS FEUER nimmt uns Joe Sacco mit in eines der bevölkerungsreichsten Länder dieser Welt. Eine Region, in der religiöse Konflikte für politische Spannungen sorgen und wirtschaftliche Interessen miteinander kollidieren.
August 2013, Uttar Pradesh, Nordindien. Im mehrheitlich muslimischen Kawal erstechen zwei junge Hindus einen gleichaltrigen Muslim auf offener Straße. Die Täter werden daraufhin von einer aufgebrachten Menge ermordet. Nach Massenprotesten eskalieren die Ereignisse und es kommt zu wiederholten Überfällen der Angehörigen beider Religionsgemeinschaften aufeinander, die mehrere Dutzend Tote fordern und die Flucht Zehntausender Muslime zur Folge haben. [Verlagstext]
Im Zentrum dieses Reportage-Comics stehen die Muzaffarnagar Unruhen und ein Ort, den Sacco mit journalistischem Blick aufsucht: der fragliche Ort liegt im Norden Indiens und ist geprägt von Landflucht, Identitätsfragen und Machtverschiebungen. Der Autor und Zeichner führt uns zu staubigen Straßen, religiösen Dorfbewohnern und gegenseitiger Ausgrenzung, von einem überschaubaren Auslöser hin zu einer Kette von Reaktionen. Alle kommen zu Wort: die Opfer, die Zeugen, die Gemeindeältesten und die Politfunktionäre. Sie bekommen Raum und erzählen ihre Sicht der Dinge, ihre Verletzung, ihre Sicht auf Schuld und Verantwortung. Und wie nicht anders zu erwarten war, ist die Wahrheit wieder eine Frage des Standpunktes.
Sacco schildert dabei streng dokumentarisch. Wir begleiten ihn und seinen Dolmetscher bei seiner Recherche, wie eine Alltagssituation, ein zwischen Hindus und Muslimen eskalierender Konflikt, in eine Verabredung von Gewalt münden konnte. Wie sich die Stimmung verdichtet und explodiert ist. Zwischen den Seiten gibt es keine Helden, aber eine Vielzahl von Protagonistinnen und Protagonisten, deren Leben sich verändern.

Zwischen Alltag und Aufruhr
Der Comic bleibt bewusst chronologisch, doch immer wieder setzt Sacco Rückblenden ein, beschreibt vergangene Traumata von Familienschicksalen und verweist auf kollektive Erinnerung. Der Titel INDIEN – ÖL INS FEUER spiegelt das Bild gut. Öl hier steht metaphorisch für den explosiven Mix aus Ressentiments, gesellschaftlichen Brüchen und politisch gezielten Triggern. Das Feuer entzündet die Spirale der Gewalt, die mit einem Mal eskaliert.
Sacco führt uns von den geschichtlichen Hintergründen einer indischen Staatsgründung zu ersten Warnzeichen aus Gerüchten und Gruppen, die sich formieren, hin zur Mobilisierung von Macht und Gegenmacht. Die Folgen der Tat sind brennende Häuser, geteilte Familien, verschobene Leben. Er verzichtet auf einen Showdown im klassischen Sinne. Dies ist eine Dokumentation, kein Drei-Akter-Drama.
Das Ende des Comics ist eine Art Pause, ein Moment der Stille, ohne dramatischen Schluss, aber mit einer offener Frage: Wie wird es weitergehen? Wann sind die nächsten Öl-Fässer so voll, das der kleinste Funke sie wieder in Brand setzen kann?
Diese Entscheidung ist klug. Sie macht deutlich, dass der Konflikt nicht endgültig ruht, sondern latent ist und weiter gefährlich bleibt.

Wenn Funken auf Brennbares fallen
Innerhalb der knapp 140-Seiten versteht Sacco es, komplexe Prozesse wie die Untergrabung von Macht, Glaubensspaltungen oder medial aufbereitete Narrative glaubhaft zu skizzieren. Er bietet keine einfache Schwarz-Weiß-Erzählung, auch wenn der Comic in Schwarz-Weiß gehalten ist. Weder sind Muslime nur die Opfer noch Hindus nur die Täter. Machthaber erscheinen nicht nur böse und die Ohnmächtigen nicht nur machtlos.
Vielmehr wird sichtbar, wie alle Beteiligten Teil eines Systems sind, in dem Ressentiments, Angst, ökonomische Not und politische Instrumentalisierung wie Zahnräder ineinander greifen. Sacco verweilt bei den Menschen, entschleunigt, zeigt ihr Umfeld, ihre kleinen Momente. Dieser Fokus gibt der Geschichte Tiefe und verhindert eine plakative Inszenierung.
Dabei variiert er das Tempo. Phasen mit dichter Atmosphäre wechseln mit ruhigen Beobachtungen, welche die Gewalt nicht glorifizieren, aber ihre Vor- und Nachwirkungen eindrücklich zeigen. So entsteht eine dichte, bedrückende Stimmung. Der Einstieg gelingt leicht, weil Sacco auf erklärende Bildtexte verzichtet und solides Hintergrundwissen einfließen lässt. Zugleich bewahrt er den dokumentarischen Anspruch. Er lässt unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen und räumt Widersprüche ein und unterstreicht. Wie bereits gesagt: Wahrheit ist eine Frage des Standpunktes.

Der Chronist der Konflikte
Joe Sacco ist kein klassischer Comic-Szenarist. Er ist Zeitzeuge, Reporter und Zeichner zugleich. Geboren 1960 auf Malta und aufgewachsen in Australien und den USA, studierte er Journalismus und entwickelte früh ein Faible für Comics mit Aussagekraft. Sein Name steht synonym für guten Comics-Journalismus.
In seinen bisherigen Werke PALÄSTINA, GAZA oder WIR GEHÖREN DEM LAND erzählt er von Konflikten, Ungerechtigkeit und globale Machtmechanismen. In INDIEN – ÖL INS FEUER knüpft Sacco genau an diese Tradition an. Er begibt sich selbst vor Ort, spricht mit Betroffenen und zeigt uns seinen eigenen Weg durch die Recherche. Diese Selbstpositionierung als Journalist und Zeichner ist sein Markenzeichen. Er bleibt er nicht bei einer Opfer-Täter-Erzählung, sondern bettet persönliche Schicksale in größere Zusammenhänge ein.

Der Reporter mit dem Zeichenstift
Sacco arbeitet handwerklich sehr traditionell. Er setzt auf analoge Techniken, reduziert Kolorierung und gibt den Skizzen noch Raum. Die Zeichnungen haben dokumentarischen Anspruch, aber keine glamourösen Action-Sequenzen. Dadurch entsteht Authentizität. Zugleich zeigt sein Ansatz, dass Comics mehr sein können als Unterhaltung. Sie sind auch Medium für Debatten. Er zeigt uns nicht alles spektakulär und das ist gut so. Seine erzählerische Stärke liegt im Verweilen, im Beobachten, im Strukturieren von Stimmen und Daten, nicht im marvelesken Effektfeuerwerk.

Handfest und doch feinfühlig
Die grafische Umsetzung von INDIEN – ÖL INS FEUER folgt seinem etablierten Stil des Zeichnens: schwarz-weiß bzw. reduziert koloriert, mit klaren Linien, vielen Texturen, Schaffuren und einem dokumentarischen Look. Er visualisiert keine übertriebenen Bewegungen, keine Pop-Effekte, sondern hat den Alltag im Fokus. Dabei wirken die Panels teils wie eingefrorene Fotografien, teils wie belebte Skizzen.
Besonders auffällig ist die Panelstruktur. Sacco arbeitet häufig mit großformatigen Bildern, überschreitet Panelgrenzen, wechselt dann geschickt zu kleineren Ausschnitten um etwa ein Gespräch oder individuelle Emotionen zu zeigen. Dies erzeugt Rhythmus. Wir bleiben beim Umfeld, dann zoomen wir in ein Gesicht oder auf eine Hand, wechseln von der Intimität wieder zurück zum Überblick. Diese visuelle Dynamik trägt entscheidend zur Wirkung seiner Erzählung bei.

Grafik mit Beobachtung
Technisch zeigt Sacco große Reife und Erfahrung. Seine Zeichnungen sind detailliert, ohne überfrachtet zu wirken. Figuren wiederholen sich nicht monoton, Hintergründe geben Kontext. Der Leser kann abschweifen, schauen, spüren. Wer sich auf diesen Stil einlässt, erhält eine visuelle Reise, die atmosphärisch und fordernd zugleich ist.

Ein Hintergrund mit Breitenwirkung
Der Konflikt, den INDIEN – ÖL INS FEUER behandelt, steht nicht isoliert. Im Umfeld von Wunsch nach Land, Macht und Zugehörigkeit trifft Indiens koloniale Vergangenheit auf moderne Schwächen des politischen Systems Demokratie. Sacco erklärt den aktuellen Ausschlag in historischen Narrativen: mit der Teilung der ehemaligen britischen Kronkolonie, mit Flucht und Migration, Landreformen und der politischen Mobilisierung entlang religiöser Linien. Hinzu kommen Mechanismen der Medien- und Machtpolitik. Welcher Gruppe gehört man an? Wer erzählt die Geschichte? Wer definiert Opfer und Täter? Diese Fragen zieht sich wie rote Fäden durch den Comic.
Sacco schildert die Gewalt als Moment in einer langen Reihe historischer Ereignisse und Wunden, zeigt die sich daraus ergebenden Probleme, aber entschuldigt damit nicht das hier und jetzt. Damit wird INDIEN – ÖL INS FEUER auch für Leser außerhalb Indiens relevant, denn die Mechanismen von Spaltung, Manipulation der Erinnerung und Mobilisierung großer Menschenmengen lassen sich schwer nur auf den indischen Subkontinent begrenzen.

Warum dieses Comic herausragt
Was macht INDIEN – ÖL INS FEUER nun besonders? Zunächst einmal ist es selten, dass ein Comic so kompromisslos Reportage ist. Sacco bringt die Dokumentation in Zeichenform. Diese Verbindung aus Vor-Ort-Recherche, journalistischem Anspruch und visueller Erzählung macht aus dem Comic mehr als eine bloße Unterhaltung. Gleichzeitig bleibt das Thema zugänglich. Der Einstieg gelingt ohne Vorwissen über Indien oder Konfliktforschung.
Joe Sacco fokussiert sich auf Fragen statt auf sofortige Antworten. Er zeigt uns die Mechanismen, wir werfen die Fragen selbst auf. Wie entsteht Erinnerung? Wer profitiert von Gewalt? Wie manipulieren Medien und Politik Narrative? Durch diese Haltung bleiben wir aktiv und nicht nur Konsument.
Auch stilistisch ist der Band relevant: Der dokumentarische Comic – wie z.B. DIE FRAU ALS MENSCH von Ulli Lust oder GAMES von Patrick Oberholzer – hat sich inzwischen etabliert, aber selten wird er im Kontext südasiatischer Konflikte so stringent ausgeführt. Das macht das Werk für Comic-Begeisterte spannend und für Gelegenheitsleser als Einstieg in das Thema interessant.
Das einzige, was mir anfangs persönlich nicht so gut gefallen hat ist, dass manche Kapitel etwas komprimiert wirken, fast zu dicht. Wer jede Figur nach verfolgen will, braucht Konzentration. Aber das ist kein Fehler, sondern Folge der Sparsamkeit im Mittel. Aber als Leser soll ich mich ja auch intensiv mit dem Thema beschäftigen und nicht hindurch fliegen.

Fazit
In der Gesamtschau funktioniert INDIEN – ÖL INS FEUER als vielschichtiger Reportage-Comic sehr gut. Er erzählt nicht nur was passiert ist, sondern auch wie. Wer also eine klassische Heldenerzählung erwartet, wird enttäuscht, zumindest aber überrascht. Und wer bereit ist, sich auf Irritation und Nachdenken einzulassen, erhält Zugang zur menschlichen Seite politischer Gewalt.
Wer Sacco kennt, weiß, worauf er sich einlässt. Wer neu in seinem Werk ist, bekommt einen guten Einstieg in anspruchsvolles Comic-Storytelling und wird sich seinen anderen Werken ebenfalls zuwenden. In INDIEN – ÖL INS FEUER zeigt Sacco, dass die Konflikte zwar lokal erscheinen, aber universelle Muster bedienen. Genau hieraus ergibt sich anschließend ein starker Bezug für eine internationale Leserschaft.
Ja, INDIEN – ÖL INS FEUER ist kein leichter Snack. Er verlangt Aufmerksamkeit, aber er belohnt mit Tiefe, Klarheit und einem Stil, der sowohl informiert als auch bewegt. Joe Sacco gelingt es, lokale Gewalt als Spiegel für globale Phänomene zu zeigen, ohne zu simplifizieren.
Wer sich fragt, warum Politik, Medien und Geschichte so oft miteinander verbunden sind, der sollte INDIEN – ÖL INS FEUER lesen.
INDIEN – ÖL INS FEUER
© Reprodukt Verlag | Hardcover | 144 Seiten | Schwarz-Weiß
Storyline: ★★★★☆
Zeichnungen: ★★★☆☆
Farben: ★☆☆☆☆
Lettering: ★★★★☆
Humor: ☆☆☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★☆
ISBN: 978-3-95640-493-1




