Linn ist die attraktive Heldin unserer Geschichte. Sie ist jung, athletisch schlank, wild und mit einem Rotschopf, der eigentlich jedem auffallen müsste, es dann aber doch nicht tut, selbst wenn der Betrachter die blaue Strähne beachten würde. Linn gleitet durch diese Welt OHNE beachtet zu werden. Und das ist gut so. Denn Linn ist eine Diebin! Diese Unsichtbarkeit verleiht ihr Selbstvertrauen. Sie glaubt an sich.
Bevor wir Linn begegnen, machen wir jedoch erst die Bekanntschaft mit dem Antagonisten der Geschichte. „Meister“ Worn ist dunkel, selbstsicher und trägt eine Pestmaske. Er ist der „Herr der Angst“, der die dunklen Schrecken befehligt, die im Jahr 2016 das Lyonnais geplündert haben und die Burgund belagern: die Shayk.
Es sind Tierwesen mit Zähnen und Klauen, die die Welten der Menschen mit Schrecken überziehen und über die er Macht besitzt. Tierwesen mit Verstand. Mit ihnen will Meister Worn Paris einnehmen, ein mittelalterliches Paris, während die Herrschenden des Klerus noch glauben, dass sie sich seine Macht gefügig machen und zu ihren Gunsten nutzen können. Der Grund hierfür bleibt erst einmal unklar. Diese Geschichte dreht sich folglich – auch – um den Glauben.
Doch stellen wir uns einige Fragen: Nach hiesiger Zeitrechnung ist es also 2016? (Ich habe tatsächlich zweimal hingeschaut und nein, es ist wohl kein Druckfehler.) Ein mittelalterliches Paris? Ein „Meister“ in einem Rokoko-Kostüm, das nur bis in die 1770er Jahre modern war? Ein Burgund, dass es in dieser Form ebenfalls nur bis 1790 gab? Was für eine Zeitrechnung soll das sein? Und was – bitte schön – soll die Pestmaske?
Wir erleben, wie Meister Worn die Massen der Shayk mit flammenden Worten und ebensolchen Rottönen gegen Paris schickt, wie er ihnen seinen Plan erläutert, sie über die Kanalisation in die Stadt einzulassen, damit sie die Verteidiger überraschen können. Der Angriff steht unmittelbar bevor, wir wissen noch nicht welchen Zweck Meister Worn mit Alledem verfolgt und wir …
… springen zu Linn, die sich über den Dächer des Paris unserer Tage ihrem aktuellen Ziel nähert. Wie gesagt: Linn ist eine Diebin. Um sich die Langeweile zu vertreiben, bricht sie in Museen oder in Privatwohnungen ein und erbeutet für skrupellose Sammler Reliquien oder Kunstgegenstände von großem Wert. Warum? Weil sie es kann. Ihr jüngster Auftrag könnte ihr Meisterstück werden. Sie soll für den berüchtigten Benyamin Argonovitch ein Schmuckstück von unschätzbarem Wert entwenden: das Medaillon des Gottes Aton, von dem bis dato keine Darstellung existierte.
Irgendwie dreht sich bei diesem Raub alles um Ägypten, das alte Ägypten (natürlich), um Echnaton und seine weltverändernde, monotheistische Religion des einen Gottes, um Eje, den hohen Hofbeamten und späteren Wesir unter Pharao Tut-Anch-Amon. Aber noch bleibt vieles im Dunkeln. Buchstäblich.
Der Diebstahl des Medaillons bleibt nicht unbemerkt und bei dem Versuch, Lamia, der Besitzerin des Juwels und Argonovitch’s Häschern zu entkommen, durchschreitet Linn eine geheimnisvolle Tür und wird in eine anderes Paris portiert, in ein paralleles, mittelalterliches und bedrohliches, in dem sich die Geschichte nicht auf die gleiche Weise entwickelt hat und dem der Angriff der Shayks bevorsteht. Sie betritt eine andere Welt in diesem Multiversum. Erinnert uns das nicht an Stargate, den Film aus 1994? Nur wurde dort lediglich der Raum überwunden, weniger die Zeit.
Yannick Corboz und Stephen Desberg gelingt es, mit dieser Erzählung ein Bild zweier starker Frauen zu schaffen, die zu Beginn auf gegnerischen Seiten stehen, die sich dann jedoch zusammenraufen müssen, um sich ihrer Feinden gemeinsam erwehren zu können. Die eigentliche Motivation von Linn ist klar. Sie langweilt sich und will sich beweisen. Doch was genau treibt die geheimnisvolle Lamia um? Ihre Geheimnisse, ihre Motive bleiben noch im Dunkeln. Woher hat sie das Portal, durch das Linn in die andere Welt reist? Was will sie damit? Was ist das Ziel ihrer Reise? So richtig erfahren wir nur, dass sie an Ausgrabungen beteiligt war und dass sie erwartet hat, dass sie um die Früchte ihrer Arbeit betrogen würde.
Bei den Zeichnungen zeigt sich der meisterhafte Stil von Yannick Corboz, der die Welten mit Tusche und überwiegend in – mal hellen, mal dunklen – Pastelltönen erstrahlen lässt. Die Linien sind nicht exakt wie in anderen Arbeiten, eher skizziert, tragen aber zur allgemeinen Stimmung des Werkes positiv bei. Corboz arbeitet hier weniger mit Schaffuren, arbeitet flächig und setzt insbesondere das Licht effekt- und stimmungsvoll ein.
Die Farbe Rot ist die zentrale Komponente. Sie symbolisiert Wärme, Hitze, Temperament, das Blut und ist die Farbe der Macht. Rot steht aber auch für Liebe und Leidenschaft. In Rot fällt jeder auf. Ausser Linn, mit ihren roten Haaren. Sie fällt nach eigener Aussage niemandem auf. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie Lamia nicht wirklich entfliehen kann.
Was mir an diesem Band gar nicht gefällt ist das Lettering. Die Schriftart ist dieselbe wie im Original. Sie ist aufgrund der – lt. Verlagsinformation – geringeren Größe des Druckformats der deutschen Ausgabe von 30 x 22 cm (statt 32 x 24 cm) und der üblicherweise wort- bzw. zeichenreicheren Übersetzung aus dem Französischen nicht wirklich flüssig zu lesen. Ganz im Gegensatz zum Original (s. Beispiel oben). Interessanter Weise habe ich dieses Problem bei den Zack-Editionen schon mehrfach beobachtet. Hilft nur alles nichts, wenn man mangels Französisch-Kenntnissen nicht zum Original wechseln kann.
Insgesamt ist „Die Flüsse der Vergangenheit“ eine durchaus ansprechende, genre-übergreifende Krimi-Fantasy-Geschichte mit History- und Horror-Elementen. In diesem ersten Band wird die Bühne bereitet und es werden zwei Welten erschaffen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Wir lernen die Protagonistinnen und einige ihrer Geheimnisse kennen, erfahren aber noch viel zu wenig über ihre Motive. Zumindest lernen wir, weshalb Meister Worn die Pestmaske trägt. (Auch wenn wir noch nicht wissen, wie es dazu kam, dass er sie braucht.)
Das Szenario ist sprunghaft, leider. Natürlich springen wir in dieser Geschichte durch Zeiten und Dimensionen, aber Stephen Desberg zeigt uns einfach nicht, wohin die Reise letztendlich gehen soll. Wir fiebern mit den Figuren, weil sie in gefährlichen Situationen sind, nicht aber, weil wir wissen wollen, ob sie es schaffen werden, an ihr Ziel zu gelangen.
Das Erzähltempo ist hoch bis zum Schluss, aber niemals überhastet. Die Hauptfiguren erhalten ausreichend Zeit, dass man sie kennenlernt, aber nicht genug, um sich irgendwie im Laufe der Geschehnisse weiter zu entwickeln. „Meister“ Worn wird als der geheimnisvolle Strippenzieher im Hintergrund präsentiert, aber seine (?) Kreaturen lehnen sich gegen ihn auf, was seine Schwächen offenbart und seinem Nimbus einen Knacks verleiht. Und welche Rolle spielt Cerf, der Hauptmann von Paris, außer das er in der mittelalterlichen Stadt für Ordnung sorgt?
Die Shayk erinnern mich ein wenig an die Taotie aus dem Film „The Great Wall“ von 2016 (!) u.a. mit Matt Damon und Willem Dafoe in den Hauptrollen. Und das passt ganz gut. Doch woher kommen sie, was machen sie in dieser Welt und warum konnten sich die Menschen bisher nicht wirklich gegen sie verteidigen? Schließlich sind die Shayk nicht zahlreich genug, um Paris einfach zu überrennen.
Für den zweiten und abschließenden Band der Reihe, der im Mai 2025 erscheinen soll, bleiben noch viele offene Fragen, die es zu beantworten gilt, u.a. natürlich, welche Rolle der „Herr der Angst“ eigentlich spielt. Erst wenn diese beantwortet sind, wird aus dieser Geschichte endlich eine runde Sache geworden sein.
Üblicherweise versprechen uns die Autoren einer Geschichte, dass sie uns ein befriedigendes Ende liefern werden. Wir werden sehen, ob die Macher der FLÜSSE DER VERGANGENHEIT dieses Versprechen einlösen können. Glauben wir! Glauben wir daran!
DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT -Band 1 – Die Diebin