Mit einer Harley Davidson die Route 66 entlang oder die Panamericana von Norden nach Süden befahren: dies sind die Träume derjenigen, die sich auf den Strassen dieser Welt frei und ungebunden fühlen wollen. Einen ROAD-Trip nennt der Romantiker das. Eine entspannte Reise über mehrere Tage von A nach B, möglichst entschleunigt und mit zahlreichen Stopps, um sich die Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke anzuschauen.
Zwei Opas auf großer Fahrt: Der Startschuss
Die in die Jahre gekommenen Zwillinge Helis und Helias wollen einen solchen Road-Trip genießen und machen sich auf, die Vereinigten Staaten zu durchqueren, von Kalifornien nach New York. Das Besondere daran: sie wollen die rd. 3.000 Meilen-lange Strecke in einem alten Ford-T-Modell befahren, in dessen Besitz sie durch einen Zufall gekommen sind und dass sie selbst – in monatelanger, liebevoller Kleinarbeit – gemeinsam restauriert haben.
Die Brüder starten mit Beginn der Sommerferien, verlassen den Großraum San Fransisco’s Richtung Süden und gelangen nach einiger Zeit auf die mit dem Lineal gezogenen Strassen, die durch Wüsten ähnliche Gebiete führen. Landschaft, Weite, kaum Menschen und auf der EVIL ROAD keine Bäume.
Ein Pinkelstopp mit fatalen Folgen
Letztere vermisst Helias ziemlich schnell, als sich seine Blase meldet und er seinen Bruder bitten muss, an einem völlig verdreckten Schrott-LKW am Wegesrand anzuhalten. (Warum Männer immer ein Objekt brauchen, um sich zu erleichtern, wird wohl nie abschließend geklärt werden. Die bekannten Theorien über Spritz-/Schutz von vorne, Reviermarkierungen oder einfachen Gleichgewichtsfragen bieten jedenfalls abschließend keine befriedigende Antworten.)
Nach vollbrachtem Werk und einigen Witzeleien geht es für die Brüder schließlich weiter. Nur, dass der Schrottlaster eben nicht verlassen am Wegesrand stand und sich der Fahrer – nun ja, „angepisst“ fühlt. Der Road-Trip wird zum Horror-Trip. Wie es um den geistigen Gesundheitszustand des Fahrers bestellt ist, sehen wir schon daran, dass er sich weder zu erkennen gibt, noch sofort auf Helias‘ „Tat“ reagiert und die Zwillinge ab sofort lieber jagt. Die Rücksichtslosigkeit des Trucks und die damit verbundenen Gefahren für Leib und Leben bringen die beiden Reisenden schnell an ihre physischen und psychischen Grenzen.
Truck des Todes: Zwischen Hommage und Abklatsch
Dominique Monféry, der Autor und Zeichner des Albums, nimmt bei seiner EVIL ROAD unverkennbar Anleihen bei Steven Spielberg’s Kurzfilm „Duell“ aus dem Jahre 1971. Im Gegensatz zu Spielberg zeigt uns Monféry aber nie, ob wirklich jemand am Steuer des Abschlepp-Trucks sitzt. Vielleicht hat er sich ja auch bei einem anderen Stephen (King) bedient und eine „Christine“ zum Leben erweckt. Der Truck selbst wird zum Antagonisten unserer Helden. Im Laufe der Geschichte wird nicht abschließend geklärt, ob es einen Fahrer gab und das lässt mich ratlos zurück.
Die Geschichte ist linear, auf schmalen 48 Seiten gradlinig erzählt und hat neben starken Actionszenen auch ruhige Momente. Soweit, so gut. Um aber ehrlich zu sein: ich tue mich mit dem Album insgesamt schwer!
Der Abschlepper der EVIL ROAD ist eine so übermächtige Bedrohung, dass ihm ein uralter Ford Model T mit zwei alten Knackern am Lenker nicht gewachsen sein dürfte. Und doch ist genau das der Fall.
Eine Identifikation mit den Protagonisten ist mir zudem kaum möglich, da es sich um Zwillinge handelt, die sich – vom Wesen her – auch noch sehr ähnlich sind. Welche Mutter ohne größere Ambitionen gibt ihren Kindern Namen wie Helis oder Helias? „Sonne, Licht“ und „der Mächtige“? Und trotz eines gemeinsamen Gegners streiten sich die zwei immer wieder wie die Kesselflicker. Brüder? Ja, natürlich. Aber auch potentielle Sieger eines solchen Straßenkrieges? Nein, eher nicht.
Sonnenstich statt Story-Logik?
Auch scheinen sich unsere Protagonisten mehr Gedanken um die Restaurierung des Fahrzeugs als um die Planung der Reise gemacht zu haben, selbst wenn uns ein kleines Panel etwas anderes glauben lassen möchte. Bei der Planung der Reise haben die Zwillinge sich für eine südliche Route durch Wüsten und ähnliche Landschaften entschieden. Und das obwohl sie ein Cabrio restauriert haben? Obwohl Helias kein Hutträger ist und ihm stundenlang die Sonne das Hirn weich kochen wird? Auch verlangt die Handlung von den Zwillingen, die nicht mehr die jüngsten sind, körperliche Stunts ab, die selbst in der heutigen Zeit unglaubwürdig wären. Doch dazu spoilere ich hier nichts weiter.
Im Gegensatz zu Spielberg’s Duell, dass einen Kampf Mann-gegen-Mann darstellt und durch die vermeintliche Überlegenheit des Trucks gegenüber dem roten Plymouth Valiant De Luxe des Protagonisten bei ihm – und dem Zuschauer – paranoide Züge begünstigt, treffen die beschriebenen Geschehnisse bei mir als Leser keinen Nerv.
Paranoide Personen sind üblicherweise mit ihrem individuellen Angstempfinden allein, allein in der Weite des Landes, auf unbelebter Straße. Aber nicht hier. Die Zwillinge sind nie allein. Das nimmt dem Album die Kraft. (Vorsicht Spoiler:) Existiert dieser Twist vielleicht nur, weil die Antagonisten ebenfalls Zwillinge sind? Nur damit – nachdem einer erledigt wurde und man sich endlich sicher fühlen könnte – der zweite wie Kai-aus-der-Kiste auftaucht? Dieser Effekt ist billig und eine vergebene Chance! Aber vielleicht wollte sich Monféry auch einfach nur zu sehr von „Duell“ abheben.
Licht, Farbe, Panelkunst: Monféry’s Kino im Comic
Was mich an EVIL ROAD von Beginn an fasziniert hat, sind die lebendigen Zeichnungen von Dominique Monféry, der Ende der 80er-Jahre als Animator angefangen und später sogar eine Oscar-Nominierung erhalten hat. Die klassische Panel-Abfolge ist an vielen Stellen mit den Sehgewohnheiten der (ebenfalls) klassischen Kinogänger kompatibel, in ihrer Ausrichtung abwechslungsreich, aber wenig dynamisch. Eine Kinoleinwand eben, die auf Comic-Format herunter gebrochen wurde.
Man merkt Monféry an, dass er sein Anmiations-Handwerk versteht. Er beherrscht den Einsatz von Licht und Schatten, die Farbkomposition ist stimmig, die ausdrucksstarke Mimik der Handelnden und die wuchtige Darstellung der Action-Sequenzen machen das Album visuell zu einem echten Hingucker. Das war auch genau das, was mich zum Kauf animiert hat. Und aus diesem Grund habe ich ihn nicht bereut.
Comic ohne Kompass: Zwischen den Genres verloren
Der Comic entzieht sich den üblichen Genre-Schubladen. Er ist kein einfaches Road-Movie, kein Krimi, kein Thriller, vor allen Dingen aber auch kein Funny. Ja, er hat gewisse Horror-Elemente, hat aber gleichzeitig keine Protagonisten, die ich gern haben und mit denen ich ernsthaft mitfiebern kann.
Echter Horror, der sich des überraschenden Moments bedient, kann in den Weiten dieser Wüste glaubhaft nicht entstehen. Ja, Monféry lässt den Truck immer wieder aus dem Nichts auftauchen, aber eine gute Erklärung dafür liefert er nie und damit ist es bloße Effekthascherei.
Finale ohne Wirkung – David gegen Goliath, mal zwei
Helis und Helias wachsen über sich hinaus und werden am Ende überlebt haben. Aber dieser erfahrene Goliath, der – wie wir auch erfahren – schon zahlreiche Morde begangen hat, soll diesen beiden David’s nicht gewachsen sein? Obwohl es sogar zwei von dieser üblen Sorte gibt?
Die Protagonisten erinnern mich sehr an Jack Lemon und Walter Matthau in ihren besten Tagen. Ein Gespann, dass auf ihre Weise eine Komödie abliefert, aber keine echte Heldenreise absolviert. Helis und Helias werden zum Schluss wieder in der Garage sitzen, das herunter gekommene Wrack des Ford an ihrer Seite. Ob sie es nach den Geschehnissen noch einmal aufarbeiten, lässt die Geschichte offen. Im Augenblick fühlen sich die Beiden wohl einfach nur alt, uralt – wie das T-Modell selbst.
Schöner Schein, schwache Story
Böse Zungen werden behaupten, dass man das alles hätte erahnen können und dass einem das Cover bei genauem Hinsehen bereits einen versteckten Hinweis gegeben hätte: denjenigen, die uns zu sehr folgten, zeigen wir den Stinkefinger… EVIL ROAD hin oder her!
EVIL ROAD
© Splitter Verlag| Hardcover | 48 Seiten | Farbe
Storyline: ★☆☆☆☆
Zeichnungen: ★★★★☆
Lettering: ★★★☆☆
Humor: ★☆☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★☆☆☆
ISBN: 978-3-96445-131-6
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