Die Zeichnungen von Étienne Willem faszinieren mich schon seit geraumer Zeit. Darum freut es mich sehr, dass die Geschichten um DAS MÄDCHEN VON DER WELTAUSSTELLUNG nun in einer Gesamtausgabe der ZACK-Edition erschienen sind.
Die Geschichte beginnt genau da, wo große Geschichten einfach hingehören: in einem brodelnden Paris! Wir treffen Julie Kleinnagel, eine junge Frau mit echtem Talent für Wahrsagerei und für das unvermeidliche Chaos, das so ein Talent Mitte des 19. Jahrhunderts zwangsläufig mit sich bringt.
Klingt nach Abenteuer? Ist es auch. Julie gehört zum fahrenden Volk und lebt mit ihrer etwas exzentrischen Mutter in einer Welt, in der zwischen Hochglanz, Dreck und Skandalen kein Platz für Langeweile bleibt.
Drei Weltausstellungen, eine Heldin
Schon zum Auftakt (zur Weltausstellung 1855, vier Jahre nach der Londoner Weltausstellung aus SHI – AM ANFANG WAR DIE WUT) wird klar: Hier geht es wahrlich nicht nur um Pariser Glitzerträume, sondern auch um Intrigen, Spionage und eine Heldin, die ganz genau weiß, was sie will.
Die 12-jährige Julie gerät zu Beginn mitten in einen Diebstahl, der Kreise bis in die Pariser High Society zieht. Dabei trifft sie auf ein wildes Kabinett aus Figuren selbstverliebter Technokraten, Gauner und schnöseliger Adliger. Während halb Paris die Zukunft bestaunt, versucht Julie, ihre eigene in die Hand zu nehmen.
Im zweiten Teil (Weltausstellung 1867) ist Paris selbstbewusster denn je und die inzwischen 25-jährige Julie mit ihr. Sie weiß jetzt, wie fragil ihr Platz in der Gesellschaft und im Leben ist und wird dieses Mal zur begehrten Informationsquelle für Revolutionäre, russische Geheimgesandte und Typen, deren Motive zumeist ziemlich undurchsichtig sind. Hier prallen Globalisierung, Politik und persönliches Drama aufeinander, als wäre es das Staffelfinale einer guten Serie. Ein Finale ist es jedoch nicht. Im Gegenteil.
Der Abschluss dieses Triptychons (Weltausstellung 1878) zeigt uns Julie als 36-jährige, erwachsene Frau, mit allen Ecken und Kanten. Zwischen Mordfällen im Schatten der Expo, l’amour, die nicht so einfach zu haben ist und ihrer zunehmend ehrlichen Mutter wird klar: Die Welt ist an der Schwelle zur Moderne und Julie ist ganz vorn mit dabei. Wer auf smarte Plot-Twists, doppelbödige Beziehungen und eine Heldin mit echter Eigenwilligkeit steht, kommt hier voll auf seine Kosten.
Diese Gesamtausgabe holt beim Thema Weltausstellung alles heraus und bietet ein dickes, 20-seitigen Pakets an Hintergrundinformationen. Man merkt, dass hier mehr passiert als “nur” ein Abenteuertrip durch die Weltausstellungen.
Die große Drei
DAS MÄDCHEN VON DER WELTAUSSTELLUNG hat seine Story-Architektur gut im Griff. Drei große Epochen, drei klare Etappen und ständig neue Wendungen. Jack Manini setzt als Szenarist auf Tempo und Überraschungen. Er bietet uns einen idealen Mix aus historischem Sittengemälde und cleverem Krimi.
Die Stories springen zwischen den Orten, den Zeiten und den Stimmungen, aber wir bleiben immer im Thema. Jede Ausstellung bringt neue Probleme, neue Freunde und neue Gegner. Mal wird es politisch, dann wieder unmittelbar privat, aber irgendwo wird immer eine angespannte Erwartungshaltung geweckt.
Storytelling mit Tempo
Was daran richtig Spaß macht: Der Comic versteckt seine Kniffe nicht. Rückblenden, trockene Kommentare aus dem Off, bissige Dialoge – alles sitzt und gibt dem Plot seinen Schwung. Die einzelnen Kapitel jonglieren mit Action und ruhigen Momenten, aber so, dass nie wirklich Leerlauf entsteht.
Man merkt den Bänden an, wie viel Lust Manini und Willem an ihren Figuren, den Details und diesem Paris-Gefühl hatten. Fiese Cliffhanger gibt es natürlich auch, aber sie wirken nie aufgesetzt, sie passen zur Dramatik der Zeit und zu Julie’s Weg zur Selbstständigkeit. Alles bleibt irgendwie angenehm unvorhersehbar, die historische Kulisse macht Spaß und vermittelt uns ganz nebenbei geschichtliches Halbwissen.
Wer gern als Detektiv Comics liest und Drama mag, darf sich hier voll austoben.
Zwischen Mutterwitz und Spionage
Julie ist keine Deko-Figur im Poster-Paris. Sie ist klug, manchmal bockig, aber immer sympathisch. Mit ihr will man durch die engen Straßen streifen und hinter den nächsten Ecken Neues erleben. Ihre Mutter? Ein Charakter mit viel Herz, eben soviel Schnauze und jeder Menge Sprüche. Die Chemie zwischen den Beiden sorgt für Wärme und dafür, dass es zwischendurch menschelt, wenn es in der Stadt – und der Storyline – wieder einmal dramatisch wird.
Das Figurenkarussell dreht sich
Die Nebenrollen strotzen vor wahrem Leben. Bösewichte sind hier nicht einfach nur böse – nein, sie haben ihre eigenen Motive. Niemand ist in diesen Alben ausschließlich zweidimensional. Freunde und Feinde wechseln schon mal die Seiten. Niemand wirkt flach oder wird als reiner Gegenspieler eingebaut. Die Frauenfiguren sind mehr als einfache Sidekicks oder Love-Interests. Manini nimmt sie ernst. Sie dürfen clever, gehässig, hier und da auch solidarisch sein.
Die Dialoge klingen frisch und je nach Lage der Dinge rotzig, poetisch oder voller Galgenhumor. Man merkt einfach, da haben Leute geschrieben, die Spaß an ihrere Geschichte hatten. Das gibt der Serie ihren besonderen Ton. Sie erinnert damit natürlich an legendäre Reihen wie DIE FLINTENWEIBER oder DAS PARIS DER WUNDER.
Wo Humor auf Atmosphäre trifft
Jack Manini textet hier so frei nach Schnauze, wie man es sich nur wünschen kann. Wer seine anderen Comics kennt, weiß, dass dieser Mann schräge Charaktere, bissige Beobachtungen und schlaue Twists liebt. So auch hier: Keine Szene ohne Pointen, aber immer mit genug Gefühl für ernste Töne.
Währenddessen zeichnet Étienne Willem, als hätte er im Paris der Jahrhundertwende gelebt. Seine Panels atmen die Geschichte dieser Stadt. Sie sind dabei aber frisch und lebendig wie klassische Abenteuercomics. Willem ist detailverliebt, effektvoll, dann aber auch mal skizzenhaft und dynamisch. Leider ist er im Juni 2024 viel zu früh verstorben, aber mit diesen Geschichten hat er sich ein bezauberndes Denkmal gesetzt, mit dem er uns noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Wer DAS MÄDCHEN VON DER WELTAUSSTELLUNG aufschlägt, kann sich auf echt starke Kunst freuen. In seiner cartoonesken Art zeigt uns Willem ein Paris in all seinen Facetten, von pitoresken Boulevards über schicke Ausstellungspavillons bis zu seinen dunklen Hinterhöfen. Jede Kulisse, jede Gasse wirkt lebendig und einladend, jede ratternde Kutschen zeitgemäß.
Tanja Wenish taucht das Ganze zusätzlich in Farben, die Laune machen und die die Atmosphäre des Comics unterstützen – mal nostalgisch, mal bunt wie eine Zuckerwattebude, aber niemals flach. Zusammen liefern die Drei frankobelgische Comic-Power, wie sie sein muss.
Atmosphäre auf allen Seiten
Die Panels sind wie kleine Filmszenen aufgebaut. Es gibt genug Details, damit man ein zweites Mal hinschauen möchte und doch sind sie die Kästchen nie überladen. Perspektivwechsel, coole Ansichten und stimmige Farben sorgen dafür, dass die Welt zwischen Romantik und Realismus wild hin und her pendelt, genau wie die Stimmung der jeweiligen Story.
Das Zusammenspiel von Text und Bild funktioniert blendend. Man spürt, dass wirklich jede Figur, jeder Raum durchdacht wurde. Die Kolorierung tut ihr Übriges. Sie macht das Paris der Belle Époque zu einem schönen Erlebnis, voller Licht, Schatten und versteckter Zitate.
Wer Comics – wie ich – vor allem wegen ihrer Zeichnungen liest, wird hier fündig.
Von der Realität in die Panel-Welt
Was DAS MÄDCHEN VON DER WELTAUSSTELLUNG auszeichnet? Die Mischung! Hier werden reale Expo-Fakten und echte Zeitgeschichte nicht einfach plump eingestreut, sondern fließen geradezu lässig in die Handlung ein. Die 20 Seiten Extra-Material mit informativen Hintergrundtexten nehmen uns mit hinter die Kulissen und lassen uns die erzählten Geschichten noch intensiver erleben.
Die Comic-Reihe mischt Krimi, Abenteuer, Frauenpower und historische Recherche. Diese Kombi gibt es selten in dieser Qualität. Frauen und Geschichte funktioniert hier als starkes Doppel: Julie ist alles, außer einer passiv herum sitzenden Beobachterin und die Story – verwebt Fiktion mit echten Pariser Schauplätzen – macht Spaß und bleibt relevant. Besonders, wenn man Comic und Historie zusammen genießen will.
Fazit
DAS MÄDCHEN VON DER WELTAUSSTELLUNG ist ein lässiger, schlauer und sehr unterhaltsamer Comic, der Historie auf moderne, zugängliche Weise erzählt. Die Gesamtausgabe aus der ZACK-Edition macht besonders Spaß, weil sie Action, Witz, Drama und ein Stück echtes Paris-Gefühl in einem schönen Format vereint.
Wer Comics mag, die visuell überzeugen und inhaltlich klug sind, ist hier genau richtig. Kurzum: Einfach mal loslesen, abtauchen und das Flair genießen.
Bienvenue à l’Exposition Universelle de Paris!
DAS MÄDCHEN VON DER WELTAUSSTELLUNG
© ZACK Edition | Hardcover | 196 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★★☆
Zeichnungen: ★★★★★
Farben: ★★★★☆
Lettering: ★★☆☆☆
Humor: ★★☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★☆
ISBN: 978-3-949987-73-1
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Die ursprünglichen Cover der Reihe