Es gibt den Mafiafilm von Sergio Leone, mit Robert de Niro und James Woods aus dem Jahre 1984. Aber um den geht es hier nicht. Der dreibändige Comic ES WAR EINMAL IN AMERIKA entfaltet jeweils auf rund 250 Seiten einen reichen Teppich aus Literaturgeschichte, Zeitgeist und US-Mythos, wie ihn sonst nur literarische Großwerke wagen. Die Bände vermitteln Wissen auf eine leicht Art statt – staubtrocken wie die Prärie – nur Fakten anzuhäufen.
Das Trio Catherine Mory, Olivier Gallmeister und François Guérif hat sich nicht weniger vorgenommen als den amerikanischen Traum in der Sprache der Comics zu erzählen. Gemeinsam mit dem Zeichner Jean-Baptiste Hostache gelingt ihnen eine bildgewaltige, augenzwinkernde, dabei stets tiefgründige Reise durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Von Huckleberry bis Hemingway
ES WAR EINMAL IN AMERIKA beginnt nicht einfach irgendwo, sondern im Gründungsmythos selbst. Die Autoren lassen uns durch die Zeiten reisen: von den Gründervätern, über die Bürgerkriegszeiten, hinein in die turbulenten 1920er, die goldenen Fifties und die unruhigen Sixties. Anhand illustrer Autorenfiguren wie z.B. der von Mark Twain über Edgar Allan Poe, John Steinbeck, Ernest Hemingway bis hin zu den Beatniks wie Kerouac wird die Literaturgeschichte selbst zum erzählerischen Abenteuer. Jede Epoche, jeder Autor bringt jeweils seine eigene Farbe ins Spiel: Fitzgerald’s Glitzer, Faulkner’s Südstaatenstaub, Capote’s Crime-Glamour.
Uns begegnen ikonischen Gestalten, wie der ruhelose Huckleberry Finn, der tragischen Kapitän Ahab, die eigensinnigen Daisy Buchanan oder die gebrochenen, aber nie ganz hoffnungslosen Steinbeck-Helden. Die Autoren verweben biografische Hintergründe mit politischen Umbrüchen und stilistische Innovationen zu einem szenischen Panorama. Die Harlem Renaissance rauscht vorüber, Jazz und Exil-Poeten geben sich ein Stelldichein.
Amerika’s Spiegel in Panel und Tinte
Kein Abschnitt bleibt dabei ohne doppelten Boden. Die Wirtschaftskrise spiegelt sich in verdrängten Träumen, der Noir-Held des Hardboiled steht selbstverständlich neben dem Südstaaten-Gothic. So wird ES WAR EINMAL IN AMERIKA zu einer literarisch-visuellen Tour-de-Force durch die amerikanische Literaturgeschichte.
Die Comicfiguren kommentieren und karikieren dabei das Geschehen oft mit ironischem Unterton ohne den Ernst der Lage jemals ins Lächerliche kippen zu lassen.
Von Melancholikern und Machos
Im Zentrum der Handlung stehen neben den berühmten Schriftstellern selbst die literarischen Kinder Amerikas. Huckleberry Finn ist mehr als nur der Schelm auf dem Floß. Er fungiert als Reiseführer durch das kollektive Unterbewusstsein eines Landes, dessen Identität immer im Werden begriffen ist. Poe wird als dunkler Zauberer der modernen Genreszenen inszeniert, F. Scott Fitzgerald wechselt zwischen Glitzer und Melancholie, Hemingway prahlt maskulin, nur um daran zu zerbrechen.
Die Mory, Gallmeister und Guérif schaffen es, diese Figuren sowohl als Legenden als auch Menschen mit Fehlern, Selbstzweifeln und genialen Ausbrüchen zu zeigen. Dabei wird kein billiger Heldenmythos produziert, sondern Ambivalenz kultiviert. Faulkner, der Melancholiker des Südens, ringt ebenso mit seinem Schatten wie Jack Kerouac mit den Geistern der Rastlosigkeit.
Die Comicgestaltung setzt dabei auf subtil nuancierte Mimik und Körperhaltung, ein wenig wie in Art Spiegelman’s MAUS oder Loisel’s AUF DER SUCHE NACH DEM VOGEL DER ZEIT, nur hier eben im Dienste der amerikanischen Literaturgeschichte.
Historische Bezüge
Was ES WAR EINMAL IN AMERIKA auszeichnet, ist der vielschichtige Umgang mit der wechselvollen US-Geschichte. Der Comic versäumt es nicht, von Rassentrennung, Sklaverei, Mafia, Prohibition und Bürgerkrieg zu erzählen, ohne dabei jedoch didaktisch zu werden.
Stattdessen erzählt er aus der Sicht der Betroffenen, dem afroamerikanischen Schriftsteller, der sich gegen Ausschluss und Diskriminierung behauptet, dem Trucker in der Krisenzeit oder dem Beatpoeten, der nach Spiritualität und Gleichheit hungert.
Der Humor, mal bissig, mal melancholisch, wirkt stets als Katalysator für Erkenntnis. Die berühmte Kapitän-Ahab-Szene wird dramatisch inszeniert, doch bricht der Comic immer wieder aus dem Pathos aus, beispielsweise mit Meta-Kommentaren der Figuren direkt ins Panel.
Im Subtext schwingt Kritik am Makel des amerikanischen Traums mit. Fragen nach Ungleichheit, Emanzipation und dem Scheitern großspuriger Visionen ziehen sich wie ein blau-rot-weißer Faden durch die Seiten.
Die Macher hinter dem Mythos
Oliver Gallmeister und François Guérif kennen sich aus mit amerikanischer Literatur, während Catherine Mory für intelligente, Sujet übergreifende Romanbearbeitungen bekannt ist. Alle drei sind Spezialisten für die literarische und historische Vermittlung von Literatur.
Jean-Baptiste Hostache, der bereits mit ASSASIN’S CREED CONSIPARTIONS und CLOCKWERX beeindruckte, setzt hier einen weiteren Meilenstein im Bereich des historisch-literarischen Comics. Seine Arbeiten sind hier schlichter gehalten und greifen Elemente der Karikatur wie auch der Literarisierung auf, ohne ins Banale abzugleiten.
Hostache’s Stil ist charakterisiert von klaren Linien, von pointiertem Farbgebrauch und kontrollierter Überzeichnung. Er erinnert streckenweise an die Ligne Claire der Klassiker wie TIM UND STRUPPI, bleibt aber roher, eigenständig und nimmt sich hinter der Geschichte zurück.
Zweimal Amerika, zweimal anders
ES WAR EINMAL IN AMERIKA ist Bestandteil einer dreibändigen Reihe, die sich jeweils unterschiedlichen Aspekten der amerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte widmet.
Im ersten Band finden sich James Fenimore Cooper’s letzter Mohikaner und der Völkermord an den Ureinwohnern, Nathaniel Hawthorne mit den Hexen von Salem, Edgar Allan Poe und die Erfindung des Kriminalromans, Henry David Thoreau mit der Erfindung des Nature Writing und der Kampf gegen die Sklaverei, Walt Whitman mit der Geburt der amerikanischen Poesie und dem Sezessionskrieg, Herman Melville mit seinem Moby Dick und der Eroberung der Ozeane, Emily Dickinson und der Puritanismus, Mark Twain und der Humor des Westens, Henry James und der Gegensatz zwischen der alten und der neuen Welt sowie Jack London und der Goldrausch
Während der erste Band also die Grundlagen des amerikanischen Selbstverständnisses beleuchtet, wagt Band zwei im Herbst 2025 einen Zeitsprung in die Moderne, setzt noch stärker auf stilistische Innovationen und legt mehr Wert auf den politischen Subtext.
Der zweite – und derzeit aktuellste – Band reiht sich gekonnt ein, bezieht sich auf seine Vorgänger, erweitert jedoch Perspektive wie Tiefenschärfe und macht neugierig auf abschließende – oder weitere? – Bände.
Interessant ist, dass jede Episode einerseits für sich steht, sie andererseits aber einen roten Faden durch die Entwicklung der amerikanischen Erzähl- und Identitätskultur bilden. Parallelen zu Reihen wie AMERICAN SPLENDOR oder die monumentalen Adaptionen von WILL EISNER sind dabei durchaus angebracht.
Literaturgeschichte für Comicleser
ES WAR EINMAL IN AMERIKA ist ein Comic für alle, die Amerika lieben und für alle, die seinen Glanz kritisch hinterfragen. Die größten Stärken sind das ironische Spiel mit Genre und Zeitgeist, die nuancenreiche Charakterzeichnung und das brillante Zusammenspiel aus Text und Bild.
Die bisher erschienenen Bände verstehen es, die großen Themen der US-Literatur anschaulich darzustellen, ohne dabei bildungsbürgerlich zu wirken. Wer einen staubtrockenen Schmöker befürchtet, wird positiv überrascht. Die Panels sind humorvoll, selbst reflektierend und gelegentlich sogar richtig frech.
Natürlich bleibt Raum für Kritik: Manche Episoden könnten mehr Tiefe vertragen, insbesondere die Perspektiven weiblicher Autoren werden nur am Rand behandelt. Insgesamt aber ist ES WAR EINMAL IN AMERIKA ein großartiges Beispiel dafür, wie Comics komplexe Geschichten vermitteln können und dabei lehrreich, unterhaltsam und ein Fest für die Sinne sein können.
Fazit
ES WAR EINMAL IN AMERIKA überzeugt nicht nur Comic-Kenner, sondern dürfte viele Lesemuffel für die großen Geschichten Nordamerikas begeistern. Wer einen Einstieg in amerikanische Literatur sucht, findet hier eine unterhaltsame, intelligente und optisch schön gestaltete Einführung, die zum Weiterschmökern verführt.
Allen, die an der Schnittstelle von Comic, Geschichte und literarischer Innovation schwelgen wollen, sei die Bände ans Herz gelegt: Lest, lacht – und entdeckt Amerika neu!
ES WAR EINMAL IN AMERIKA – Das 19. Jahrhundert (1 von 3)
© Jacoby Stuart | Hardcover | 224 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★★☆
Zeichnungen: ★★★☆☆
Farben: ★★★☆☆
Lettering: ★★☆☆☆
Humor: ★★☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★☆☆
ISBN: 978-3-96428-272-9
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Die bisher erschienenen Bände der Reihe: