Cover 1 von SHI – AM ANFANG WAR DIE WUT

SHI – AM ANFANG WAR DIE WUT

London, 1851: Die Welt befindet sich im Umbruch. Das viktorianische Zeitalter strotzt vor Stolz, Fortschritt und moralischer Engstirnigkeit. Inmitten der ersten großen Weltausstellung im Crystal Palace kreuzen sich die Lebenswege zweier Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Lady Jennifer Winterfield entstammt der britischen Oberschicht. In ihr spürt sie das Gefängnis gesellschaftlicher Konventionen und ihre Empathie stößt an die engen Grenzen aus Standesdünkel und patriarchaler Härte.

Die andere ist Kitamakura, „Kita“, eine junge Japanerin und ein – nun, ja – Ausstellungsstück auf dieser Weltausstellung. Sie erträgt einen unermesslichen Schmerz: ihr Kind ist tot und die Londoner Oberschicht will nichts davon wissen. Für Kita ist es eine doppelte Katastrophe. Ihrem Kind bleibt ein ordentliches Begräbnis verwehrt und ihr Verlust wird unsichtbar gemacht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das allmächtige Empire lässt grüßen.

 

Innenseite 1 von SHI – AM ANFANG WAR DIE WUT

Frauen, Wut und Widerstand

Diese beiden unterschiedlichen Frauen finden sich nun nachts an einem Beet auf dem Ausstellungsgelände wieder und graben Kita’s totes Baby aus. Ein Akt tiefster Verzweiflung und zugleich eine Geste des Widerstands gegen eine Gesellschaft, die Menschen wegwirft, wenn sie unbequem werden. Zwei Frauen, ein Ziel, ein Thema: die Würde der Opfer sichtbar zu machen und gegen das Wegsehen aufbegehren. Eine Herkulesaufgabe.

Doch die beiden werden entdeckt und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Ein gesellschaftlicher Skandal droht, Jennifer und Kita werden gejagt, verfolgt von den Agenten der Moral und den schmutzigen Händen der Mächtigen. Gleichzeitig entwickelt sich der Coup zu einer, die Zeitebenen übergreifenden Geschichte.

Der Comic beginnt mit einem Prolog, einem Prolog in der Gegenwart: Ein reicher Waffenfabrikant, Sir Lionel Barrington, feiert seine juristische Immunität, bis im eigenen Garten ein schrecklicher Anschlag mit von ihm hergestellten Landminen seine Familie aus dem Leben reißt.

Die scheinbar lose verbundene Tat ist die Fortsetzung des oben beschriebenen, viktorianischen, weiblichen Aufbegehrens. Die organisierte Rache ist über Jahrhunderte hinweg gewachsen, in ein geheimes Netzwerk von Frauen hinein gewachsen, die vom Zorn über die tief verwurzelte Ungerechtigkeit getrieben sind. Das Symbol 死 – SHI, das japanische Schriftzeichen für „Tod“ – wird zum Markenzeichen dieses Bundes, zur elegant-tödlichen Drohung gegen das alles beherrschende Patriarchat.

 

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Die düsteren Wurzeln von SHI

Zurück im England von 1851 erhöht die zweite Erzählebene den Druck, langsam aber unaufhaltsam.

Lady Jennifer verbündet sich mit Pickles, einem gewitzten Straßenmädchen. Gemeinsam schmieden sie einen Plan, um Kitamakura aus einer Anstalt für „Hysterische“ zu befreien. Denn Kita, mit tätowierten Symbolen und einer unerklärlichen Macht, übt nicht nur auf Jennifer, sondern auch auf die Insassen der Anstalt eine faszinierende Anziehung aus.

Die Geschichte eskaliert in Gewalt, Verlust und Hoffnungslosigkeit. Und doch begegnen unsere Protagonistinnen den Machenschaften einer verschworenen Männerkaste und der Willkür der Aristokratie mit List und Mut, aber auch mit der unbändigen Wut unterdrückter Frauen.

 

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Gesellschaftskrimi und Rachethriller

Zidrou erzählt mit SHI – AM ANFANG WAR DIE WUT nicht nur einen packenden Thriller, sondern konstruiert ein vielschichtiges Panorama gesellschaftlicher Verlogenheit. Die zentralen Fragen nach Moral und Gerechtigkeit, nach weiblicher Selbstermächtigung und dem Preis der Rache, treiben die Handlung immer wieder voran.

Der Comic setzt dabei gezielte Cliffhanger, gibt aber im hier vorliegenden Auftaktband noch nicht alle Antworten preis. Mit jeder weiteren Enthüllung wächst der Kreis der Gefahr und die Ahnung, dass dieses Erbe des Zorns noch lange nicht beendet ist.

SHI jongliert stilistisch mit unterschiedlichsten Genres. Die Handlung setzt auf einen dramatischen Aufbau mit doppeltem Boden. Die Zeitsprünge zwischen Gegenwart und viktorianischem England sind nicht bloß erzählerisches Füllmaterial. Sie zeigen, wie historischer Schmerz bis in die Gegenwart wirkt, wie lange das System bereits besteht. Die Geschichte lebt von und mit ihren Rätseln. Erst Stück für Stück entblättern sich Wahrheit und Identität der Figuren.

Der Plot ist eine klassische, beinahe archetypische Rachegeschichte und von Anfang an durchzogen mit bitterem Ernst, der nicht durch Humor aufgelockert wird. Der Spannungsbogen setzt dabei weniger auf klassische Action oder plötzliche Wendungen, sondern vielmehr auf eine intensive Grundstimmung.

 

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Rätsel, Rhythmus und roter Faden

Die Atmosphäre schwankt zwischen tiefer Verzweiflung und unterdrückter Hoffnung. Dabei mutet uns die Erzählung einiges zu, schreckt vor düsteren Szenen nicht zurück und lässt Gewalt und Erniedrigung für sich sprechen, über Schuld und über Verantwortung.

Zidrou’s stilisiert seine Figuren nicht zu bloßen Rächern. Vielmehr stehen am Anfang die Trauer und das Unrecht, das erlitten wird. Erst aus der Hilflosigkeit und dem Fehlen alternativer Möglichkeiten erwächst die radikale Handlung.

Der klare, episodische Aufbau des Comics macht ihn trotz komplexer Erzählstrukturen zugänglich. Klare Wechsel der Zeitebenen, sorgfältig gestreute Hinweise und mehrfach angedeutete Geheimnisse sorgen für einen stetigen Sog, der das Lesevergnügen trotz der Schwere des Themas hoch hält.

 

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Wut, Würde, Wandel

Im Zentrum von SHI stehen starke, wenn auch anfangs zerbrechliche Frauenfiguren. Lady Jennifer Winterfield wächst aus dem Schatten ihres privilegierten, aber kalten Elternhauses heraus. Ihre Entwicklung von der naiven Aristokratin zur entschlossenen Widerstandskämpferin vollzieht sich in Schritten, nicht in einem schicksalhaften Augenblick..

Kitamakura, die geheimnisvolle Japanerin, bleibt lange Zeit von einer verlustbehafteten Aura aus Schmerz umgeben. Ihre Herkunft und die sie umgebende Mystik verleihen der Erzählung eine einzigartige Note. Gerade in ihrer Sprachlosigkeit, im tiefen Trauma ihres Verlustes, liegt ihre größte Stärke. Kita ist kein Klischee, sondern ein stiller Vulkan, dessen Zorn die Handlung beizeiten kraftvoll vorantreiben wird.

Auch die Nebenfiguren sind präzise gezeichnet. Die kleine Pickles, das Straßenmädchen mit Köpfchen und Herz, bringt eine gewisse Leichtigkeit in die düstere Szenerie. Jennifer’s Onkel wirkt als Grenzgänger zwischen den Welten von Wissenschaft und Wahnsinn gezeichnet.

Die Antagonisten, allen voran der kaltschnäuzige Colonel und die opportunistischen Adelsvertreter, sind überzeichnet, aber doch so, dass sie die menschliche Fratze der Macht verkörpern, die den Zeitgeist widerspiegelt.

 

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Zwischen Trauma und Rebellion

Die jeweilige Figurenentwicklung ist bewusst als Prozess angelegt. Viele Fragen werden offen gelassen, das Unausgesprochene hält die Spannung bis zum nächsten Band hoch. Und hiervon gibt es inzwischen sechs. Die Frauen werden nicht zu „Superheldinnen“, auch wenn ähnliche Erfahrungen in US-Comics eben solche hervorgebracht haben. Stattdessen bleiben sie ambivalente, widersprüchliche Persönlichkeiten, deren Authentizität sich trotz ihrer Grenzerfahrungen zeigt und nicht deswegen.

 

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Das Dreamteam hinter SHI

Zidrou, bürgerlich Benoît Drousie, zählt zu den vielseitigsten Szenaristen Europas. Seine Karriere begann er als Lehrer in Belgien, 1991 dann als Comiczeichner mit Illustrationen für das Magazin „Spirou“ bevor er mit Werken wie DIE ADOPTION, LYDIE oder WUNDERVOLLE SOMMER den Sprung auf die große Bühne schaffte. Inzwischen hat er als Szenarist unzählige Comics veröffentlicht.

Charakteristisch für Zidrou ist die hohe Kunst, gesellschaftliche Themen in berührende, komplexe Handlungsbögen zu kleiden. So gelingt es ihm auch in SHI, schmerzliche Inhalte an düstersten Stellen mit Spannung und Empathie zu kombinieren.

 

Innenseite 8 von SHI – AM ANFANG WAR DIE WUT

Zwischen Feder und Pinsel

An seiner Seite steht dieses Mal José Homs, gebürtiger Spanier und Meister der grafischen Opulenz. Grafisch ist SHI ein echtes Ereignis. Bekannt wurde er nicht zuletzt durch seine Arbeit an der Comic-Adaption der Millennium-Trilogie nach Stieg Larsson.

Homs‘ Zeichnungen sind mehr als Begleitung zur Story, sie sind visuelle Erzählungen mit ureigener Energie. Sein Stil liegt zwischen feinem Realismus und stilistischer Überhöhung.

Seine Liebe zum Detail reicht vom Mienenspiel über die Architektur hin bis zur Kleidung. Die Zeichnungen sind voller Leben und oft von einer atemberaubenden Härte. Dabei verwendet Homs detaillierte, plastische Panels und unterschiedliche Farbpaletten, um Stimmungen und Zeitebenen zu markieren.

Mit SHI setzt er neue Maßstäbe, was Ausdruck und künstlerische Qualität betrifft. Seine Bilder fangen Emotionen, Gewalt und Zartheit gleichermaßen gekonnt ein.

Zidrou und Homs schaffen so eine Symbiose, in der Text und Bild einander verstärken statt miteinander zu konkurrieren.

 

Innenseite 9 von SHI – AM ANFANG WAR DIE WUT

Patriarchat, Protest und fernöstliche Mystik

SHI ist mehr als ein viktorianisches Drama. Der Comic arbeitet mit historischen Fakten, ohne belehrend zu erscheinen. Die erste Weltausstellung, der Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts und die gesellschaftlichen Umbrüche bilden den perfekten Nährboden für die menschliche Tragödie: die Befreiung der Frau, das Aufbegehren gegen den gesellschaftlich akzeptierten Machtmissbrauch und die bleibenden Narben entsprechender Traumata.

Der Comic behandelt somit Themen, die aktuell wieder brisant sind: Themen wie Sexismus, Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Diese werden kunstvoll in eine spannende Geschichte eingewoben und präsentiert.

 

Innenseite 10 von SHI – AM ANFANG WAR DIE WUT

Fazit

SHI – AM ANFANG WAR DIE WUT ist ein modernes Comic-Opus, das gekonnt Gesellschaftsanalyse, Thriller und Zeitkolorit vereint. Spannende Hauptfiguren und eine dichte, atmosphärisch erzählte Story zeichnen den Band aus. Bild und Text gehen eine sehenswerte Symbiose ein, die selten so reibungslos und eindrucksvoll gelingt.

Wer gerne packende und zugleich kluge Comics liest, wird an SHI nicht vorbeikommen. Die Rache, der Schmerz und der Kampf um die eigene Würde, all das wird hier narativ und visuell auf höchstem Niveau umgesetzt.

Aber Achtung: SHI ist wahrlich kein leichter Stoff. Aber einer, der in Erinnerung bleibt und ein Auftakt, der sofort Lust auf den nächsten Band macht. Wer sich auf diese Geschichte einlässt, erlebt einen Comic, der mitreißt, erschüttert und gelegentlich verstört, aber auch Hoffnung und Widerstandskraft feiert.

 


Cover 1 von SHI – AM ANFANG WAR DIE WUTSHI – AM ANFANG WAR DIE WUT (Band 1 von 6)

© Splitter Verlag | Hardcover | 88 Seiten | Farbe

Storyline:   ★★★★☆

Zeichnungen:  ★★★★★

Farben: ★★★★☆

Lettering:  ★★★☆☆

Humor:  ☆☆☆☆☆

Meine persönliche Bewertung:  ★★★★☆

ISBN: 978-3-95839-525-1

Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.

 

 

 


Die weiteren Bände der Reihe

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