Ich gebe es ja zu: Ich habe noch nicht viele arabische bzw. arabisch inspirierte Comics gelesen oder Gesellschaftsparabeln, die Magie als Metapher nutzen. Aber SHUBEIK LUBEIK (was wohl soviel bedeutet wie: DEIN WUNSCH IST MIR BEFEHL) war eine Überraschung. Eine positive.
Das Werk ist eine dieser raren Entdeckungen, bei denen ich Seite um Seite langsamer lese, um das Ende hinauszuzögern. Einfach weil ich merke, dass hier etwas passiert, das ich in dieser Form selten erlebe: ein Comic, der warmherzig ist und gleichzeitig messerscharf, der poetisch ist, aber auch brutal ehrlich. Ein Comic, der sich visuell wie inhaltlich traut, unbequem zu sein.
Die Geschichte beginnt vor einem Kiosk in Kairo oder besser: es beginnen drei Geschichten. Drei, die sich nicht wie Zahnräder ineinander fügen, sondern eher wie drei Himmelskörper denselben Fixstern umkreisen. Es gibt Flaschen, darin Magie, aber keinen Dschinn, der nach der Befreiung Karawanen voller Geschmeide oder Kleidung ausspuckt.
Stattdessen sind Wünsche in dieser Welt reguliert, behördlich klassifiziert und – natürlich – teuer. Und gefährlich, wie man direkt zu Beginn sieht, als ein Werbespot vor den Fallstricken drittklassiger Wünsche warnt. „Hüte Dich vor Deinen Wünschen“, scheint der Spot auf seine ganz eigene, mit schwarzem Humor gespickte Art zu rufen. „Hüte Dich!“ Denn wenn Du es dem Wunsch überlässt, wie er Deine Sehnsüchte umsetzt, ist das Ergebnis im besten Fall nur unerwartet.
Drei Wünsche und ein Kiosk
Nach dieser ersten Einführung: Wer sind denn nun unsere handelnden Personen?
Da ist Shokry, der Ladenbesitzer, mit seinem wachen Blick und seiner inneren Zerrissenheit. Eine Figur, die nicht heldenhaft sein will, die aber Würde hat.
Und da ist Aziza, eine junge Frau, die sich jahrelang einen erstklassigen Wunsch zusammen spart, nur um beim Kauf daran erinnert zu werden, wie sehr das System gegen Menschen wie sie aufgebaut ist. Es schmerzt, das zu lesen.
Und dann ist da noch Nour. Ihm stellt sich die Frage, was der „richtige“ Wunsch ist. Justiere ich mein Glück per Knopfdruck? Oder besteht das Leben darin, eben nicht alles kontrollieren zu können? Nour hat keine einfache Antwort. Und ich als Leser auch nicht.
Was SHUBEIK LUBEIK für mich einzigartig macht ist, dass dieses Kairo kein Postkarten-Kairo ist. Es ist kein orientalisierter Hintergrund für westliches Storytelling. Es ist lebendig, es ist widersprüchlich, verrückt, kaputt und vor allem in seiner gezeigten Magie realistisch und in seiner Realität ein wenig magisch.
Geschichten, die sich weigern, einfach zu sein
Was ich an der erzählerischen Struktur von SHUBEIK LUBEIK schätze, ist, dass mich die Geschichte ernst nimmt. Kein überhasteter Spannungsaufbau, keine Marvel-Formel, kein Pseudo-Klimax. Deena Mohamed nimmt sich Zeit für ihren Geschichten, gibt ihnen Luft, gibt ihnen Grauzonen.
Das fühlt sich manchmal fast ein wenig trotzig an und kreiert ein Comic, der sich dem Page-Turner-Diktat entzieht, ohne dabei träge zu sein. Meine europäischen Lesegewohnheiten muss ich hier sowieso umstellen, weil der Comic – wie ein Manga – ganz arabisch von hinten nach vorne gelesen werden will. Auch dies trägt aktiv zu Entschleunigung bei. Ich trage also meine Pantoffel statt meiner Straßenschuhe und bewege mich gemächlich durch die Geschichte(n). Aber ich schweife ab.
Wo war ich? Ach, ja! Drei Figuren, drei Perspektiven auf das Wünschen. Sie berühren sich, kreuzen sich ein wenig, aber nie so, dass man auf einen gemeinsamen Showdown hofft. Denn das wäre das Falsche. Diese Geschichten wollen nicht zusammengeführt, sondern verstanden werden. Jede für sich, jede mit ihrer eigenen Wucht. Wie in den märchenhaften Geschichten aus 1000-und-einer-Nacht.
Keine Magie ohne Antrag
Mich hat beeindruckt, wie Deena Mohamed die Machtstrukturen, die der Wunschhandel mit sich bringt, so beiläufig einflicht, dass ich sie fast überlese und mich dann plötzlich dabei erwische, wie ich mich frage: Wer darf hier eigentlich etwas wünschen? Wer kann sich das leisten? Und warum?
Formal nutzt Mohamed eine Art Dokumentarstil, eine gewisse Werbeästhetik und sogar manchmal staatlich wirkende Bilder. Ein Wunsch ist nicht einfach eine Entscheidung des Herzens. Er ist eine öffentliche Angelegenheit, verwaltet, reguliert, bürokratisiert und hier und da auch boykottiert. Schließlich haben Wünsche Konsequenzen. Nicht nur für die Person, die sich etwas wünscht. All das macht Deena Mohamed mir ohne erzählerischen Zeigefinger sichtbar.
Auf ganz leise Weise stellt SHUBEIK LUBEIK die große Frage: Was passiert, wenn das größte Versprechen überhaupt – nämlich dass Du alles sein kannst – tatsächlich real würde? Die Antwort darauf ist so bitter, klug und humorvoll wie das Leben eben ist.
Keine Helden, nur Menschen mit Wünschen
Aziza hat mich gepackt. Ihre Geschichte ist ein leiser Schlag in die Magengrube. Sie besitzt Stolz, Verletzlichkeit, einfache Träume und den fiebrigen Glauben an Gerechtigkeit. Und wie sie von einem System behandelt wird, das nette Formulare hat, aber kalte Augen. Sie ist keine tragische Figur, sondern eine starke Frau, deren Geschichte stellvertretend für viele andere steht.
Shokry ist dem gegenüber nicht der Archetyp des moralischen Helden, sondern ein Zweifler vor dem Herrn. Ein Typ, der viel denkt und wenig spricht. Der seinen Frieden will, ihn aber nicht erhält, ohne zu handeln. Ich kenne Menschen wie ihn und ich finde es großartig, wie der Comic ihn zeigt.
Und zu Nour muss sich sowieso jeder selbst seine eigenen Gedanken machen.
Jeder Wunsch hat sein Gesicht
Auch die Nebenfiguren bekommen ihren Raum. Selbst Menschen, die in nur drei Panels zu sehen sind, scheinen zu leben und wirken wie echte Existenzen. Und wieder schwingen unausgesprochene Fragen mit: Warum lebt diese Frau allein? Woran glaubt dieser Verkäufer? Wozu braucht dieses Kind einen drittklassigen Wunsch?
Deena Mohamed nimmt dem Schwarz-Weiß die Macht. Alle sind schattiert, grau, voller Sehnsüchte, voller Zweifel und manchmal auch voller Komik.
Die Frau, die Wünsche zeichnete
Ich bin ehrlich: Ich habe Deena Mohamed gegoogelt, noch bevor ich die letzte Seite von SHUBEIK LUBEIK umgeblättert hatte. Wer ist diese Frau, die es schafft, systemische Kritik so charmant, komplex aber greifbar in Szene zu setzen?
Deena Mohamed ist keine Newcomerin im eigentlichen Sinne. Bereits mit dem Web-Comic QAHERA hat sie sich in der Comic-Welt einen Namen gemacht, mit einer Hijabi-Superheldin gegen Sexismus und Islamophobie. Doch mit SHUBEIK LUBEIK hebt sie sich noch einmal auf eine andere Ebene. Es ist nicht mehr Protest mit Cape, sondern poetischer Realismus mit Prüfsiegel.
Die arbeitsreichen Jahre sieht man dem Comic an. Nichts scheint unter Zeitdruck entstanden zu sein, wirkt gehetzt. Alles scheint durchdacht und ausgearbeitet zu sein. Und genau das macht den Band besonders. Mohamed erzählt mit Neugier, nicht mit dem Zeigefinger. Sie interessiert sich wirklich für „ihre“ Menschen, nicht nur für deren Positionen und das Sujet.
Eine Stimme aus Kairo mit globalem Echo
Mohamed besitzt die Fähigkeit, westliche und arabische Sehgewohnheiten zu mischen, ohne sich anzubiedern. Sie bleibt bei sich, bei ihrem Kairo und ihrer Sprache. Ich hoffe, dass wir noch viel von ihr sehen werden.
Denn wenn Comics klug sind, universell und ehrliche Fragen stellen, dann ist da noch viel Luft nach oben.
Bilder, die zwischen den Zeilen sprechen
Ich kann mich nicht erinnern, wann mich ein Comic zuletzt beim Blättern so häufig innehalten ließ. Anfangs wegen der mangaesken bzw. orientalischen Leserichtung von hinten nach vorne und rechts nach links. Nicht wegen der Effekte. Sondern weil ich einfach das jeweilige Bild anschauen wollte. Eine Straßenszene, ein schweigender Blick, eine überzeichnete Werbetafel für Billigwünsche.
Deena Mohamed zeichnet teils schlicht, dann aber wiederum genau und gekonnt. Sie erzählt. Und das ist ein Unterschied. Ihr Stil ist ruhig, fast dokumentarisch, dabei voller Details. Wenig Action, viel Atmosphäre. Und genau das passt zur dieser Welt, die sie uns zeigt. Kairo lebt aus jedem Panel. Zwischen Südwind und Dreck, zwischen Tee und Alpträumen liegt hier eine ganze Gesellschaft auf dem Papier.
Sehnsucht in Schwarz-Weiß
Besonders kraftvoll und experimentell wird es, wenn die Realität bricht, in Nour’s inneren Monologen, bei Wunschübungen oder in symbolischen Sequenzen. Dann kaschiert Mohamed Farben, schichtet Panels übereinander, durchbricht die Seite. Dabei ist sie nie aufdringlich. Ich hatte jedes Mal das Gefühl, dass alles genau so passiert. Nicht hübsch, aber richtig.
Manche von uns mögen sich mehr Dynamik wünschen. Ich persönlich fand die Zurückhaltung eine Wohltat. SHUBEIK LUBEIK fordert, aber es drängt nicht. Es kümmert sich mehr um das Gefühl als um den Effekt.
Eine Welt, die verdächtig echt wirkt
Was mich nicht loslässt ist, wie realistisch diese fantastische Welt ist. Ja klar, es gibt Wünsche in Flaschen. Aber darauf ist kein Feenstaub, darin kein orientalistischer Schnick-Schnack. Stattdessen Verwaltung, Regeln, dubiose Schwarzmarktgeschäfte, Werbung, Misstrauen. Diese Gesellschaft glaubt nicht mehr an das Wunder, sie hat es in Paragraphen gezwängt.
Ich habe oft an unsere Realität gedacht. An Leistungsgesellschaft und Selbstoptimierung, an das Ideal, alles haben zu können, wenn man nur will. SHUBEIK LUBEIK seziert diesen neo-liberalen Trugschluss mit ägyptischem Anstrich, aber es funktioniert global. In Berlin genauso wie in Beirut. Denn wer von uns hat nie gedacht „Wenn ich nur einmal WIRKLICH könnte…“?
Mohamed liefert die Wunschmaschine, aber sie zeigt auch die Zwischentöne, die Gier und die Angst, die Sprachlosigkeit, die Religion, das Kapital und den Kolonialismus: alles steckt in diesen Flaschen.
Fazit
Ich lege das Buch zur Seite, schwer im Gewicht, schwer aber auch im Inhalt. Und ich denke: Wenn das die Zukunft des Comics ist, dann bin ich dabei.
SHUBEIK LUBEIK – DEIN WUNSCH IST MIR BEFEHL ist eines dieser Werke, das bleiben wird. Nicht nur wegen der Idee der Wunschflaschen. Sondern weil es sich traut, Fragen zu stellen, bei denen andere nur Antworten liefern wollen.
Es ist auch ein Statement, dass Comics mehr können als Action oder Autobiografie. Sie können Worldbuilding, Philosophie, Empathie und das alles in einem Format, das sich fantastisch anfühlt.
Fast hätte ich dieses Kleinod übersehen. Irgendwer scheint aber den Wunsch gehabt zu haben, dass ich es lese. Wer eine Alltagsflucht mit Tiefgang sucht, landet bei diesem Comic einen Glückstreffer.
Für mich war das keine Lektüre, sondern ein Besuch. In einer Stadt, die ich noch nicht gesehen habe, unter Menschen, die ich nicht kannte, die mir aber plötzlich vertraut erschienen. Und in einer Geschichte, die mich selbst herausgefordert hat. Was würde ich mir eigentlich wünschen, wenn es möglich wäre?
„SHUBEIK LUBEIK – Was ist Dein Begehr?“ „Ich wünschte mir einen zweiten Band…“
SHUBEIK LUBEIK – DEIN WUNSCH IST MIR BEFEHL
© Schreiber und Leser Verlag | Hardcover | 528 Seiten | S/W und Farbe
Storyline: ★★★★☆
Zeichnungen: ★★★☆☆
Farben: ★☆☆☆☆
Lettering: ★★★☆☆
Humor: ★★★☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★☆☆
ISBN: 978-3-96582-199-6
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