Cover von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

Staub, Hitze, Wahnsinn – DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

Der Comic DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS nimmt uns mit auf eine atemlose Reise ins Jahr 1904. Die Olympischen Spiele finden erstmals in den Vereinigten Staaten von Amerika statt, genauer gesagt im heißen, staubigen St. Louis.

Im Mittelpunkt steht der Marathon, der schon damals als eine Königsdisziplin galt. Doch was sich dort abspielt, sprengt jede Vorstellung von sportlicher Fairness und Organisation. Die Amerikaner wollen ihren Heimvorteil ausspielen und setzen alles daran, zu gewinnen. Die Konkurrenz – vor allem die aus Europa – ist ihnen ein Dorn im Auge. Was folgt, ist ein Wettlauf, der als das wohl chaotischste und absurdeste Rennen aller Zeiten in die Geschichtsbücher eingehen sollte.

Die Strecke ist eine Tortur. Glühende Hitze, Staub, der in dicken Schwaden über der Straße liegt und verwirrende Wegweiser machen den Läufern das Leben schwer. Es gibt Berichte über ein angebliches Trinkverbot, was angesichts der Temperaturen an Sadismus grenzt. Wilde Hunde jagen die Athleten, Doping-Experimente mit fragwürdigen Substanzen kommen zum Einsatz. Einige Läufer werden von Autos begleitet, andere legen Pausen ein, um sich zu stärken oder lassen sich sogar mit dem Wagen ein Stück chauffieren. Die Grenze zwischen sportlichem Wettkampf und Slapstick verschwimmt immer mehr.

 

Innenseite 1 von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

Sport-Comic ja, aber nicht klassisch

Kit Toussaint und Jose Luis Munuera verwandeln diese historische Farce in einen temporeichen, pointierten Comic. Sie verzichten auf eine trockene Geschichtsstunde und setzen stattdessen auf einen Mix aus Spannung, Humor und Zeit- bzw. Lokalkolorit. Die Handlung bleibt dabei nah an den realen Ereignissen, nimmt sich aber die künstlerische Freiheit, das Absurde weiter zuzuspitzen. Die Figuren sind liebevoll überzeichnet, die Dialoge sprühen vor Witz. Trotz aller Komik schwingt unübersehbar Kritik an Nationalismus, sportlichem Ehrgeiz und dem Drang nach Sensationen mit.

DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS ist kein klassischer Sport-Comic. Es ist eine Satire auf den olympischen Geist, ein historisches Roadmovie und ein Spiegel der damaligen Gesellschaft. Die Autoren schaffen es, die Spannung bis zum Schluss zu halten, ohne sich in Details zu verlieren. Wir bleiben neugierig, fiebern sogar mit und fragen uns ständig: Was kann jetzt noch schiefgehen? Die Antwort: einfach alles! Und genau das macht den Reiz dieses Comics aus.

Von Staub und Ruhm

DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS basiert auf einer der kuriosesten Episoden der Sportgeschichte. Der Marathon von St. Louis 1904 gilt als Paradebeispiel für organisatorisches Chaos. Die Olympischen Spiele fanden im Rahmen einer Weltausstellung statt, die Sportler mussten sich gegen Hitze, Staub und fragwürdige Regeln behaupten. Das Rennen wurde berüchtigt für seine absurden Zwischenfälle. Läufer wurden von Autos begleitet, einige kollabierten, andere wurden von Hunden gejagt oder griffen zu fragwürdigen Mitteln, um sich zu stärken.

Die Autoren greifen diese historischen Fakten auf, ohne sie zu verklären. Sie zeigen einfach, wie Sport und Gesellschaft damals funktionierten, wie Nationalismus und Ehrgeiz den olympischen Geist prägten. Der Comic bietet so einen interessanten Einblick in die Anfänge des modernen Sports. Er zeigt, wie weit die Olympischen Spiele seitdem gekommen sind – und wie viel vom damaligen Chaos manchmal auch heute noch mitschwingt!

Für diejenigen unter uns, die Interesse an Geschichte haben, bietet der Comic viele Anknüpfungspunkte. Er lädt dazu ein, sich näher mit den Hintergründen der Olympischen Spiele zu beschäftigen. Gleichzeitig bleibt er unterhaltsam und zugänglich. Die historischen Bezüge werden nie Selbstzweck, sondern sind integraler Bestandteil der Handlung.

 

Innenseite 2 von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

Inszeniertes Chaos

Kit Toussaint ist der Szenarist von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS und er ist in der frankobelgischen Comic-Szene kein Unbekannter. Seine Werke zeichnen sich durch einen feinen Sinn für Ironie und eine Vorliebe für ungewöhnliche Stoffe aus. Er versteht es, historische Themen mit einem Augenzwinkern zu erzählen, ohne dabei an Tiefe zu verlieren. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen Serien wie ELLE(S) und HOLLY ANN, beide auf Deutsch auch im Splitter-Verlag erschienen.

Die Erzählstruktur des Albums ist dem Ereignis angemessen. Der Comic springt zwischen verschiedenen Perspektiven, lässt Nebenfiguren zu Wort kommen und baut so ein vielschichtiges Bild der Ereignisse auf. Wir erleben das Rennen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln, was für Abwechslung und Tempo sorgt und an heutige Live-Berichterstattungen erinnert. Doch dazu später mehr.

Skizziertes Chaos

Jose Luis Munuera ist ein Star der europäischen Comic-Landschaft. Er hat sich mit Serien wie DIE CAMPBELLS, ROSTIGE HERZEN und seiner Arbeit an SPIROU einen Namen gemacht (und seit genau diesen CAMPELLS bin ich ein großer Fan seiner Arbeiten, was dazu führen könnte, dass ich – Vorsicht Spoiler! – noch andere seiner Werke in meinem Blog besprechen werde).

Munuera’s Zeichnungen sind das Herzstück von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS. Sein Stil verbindet klassische Klarheit mit moderner Dynamik. Die Figuren sind expressiv, ihre Mimik und Gestik oft cartoonesk übertrieben, aber immer pointiert. Munuera versteht es hervorragend, Bewegung und Tempo einzufangen. Die Panels wirken lebendig, fast filmisch. Besonders die Massenszenen mit ihren Läufern, den Zuschauern und Offiziellen sind großartig komponiert.

Seine Zeichnungen sind detailreich, aber nie überladen. Er setzt gezielt Akzente und lenkt unseren Blick auf das Wesentliche. Die Hitze, der Staub, die Enge der Strecke – all das wird visuell spürbar. Die Bildsprache ist klar, die Seitenführung intuitiv. Auch Einsteiger finden sich schnell zurecht. Ganz im Gegensatz zu den Läufern.

Munuera’s Stil vereint klassische Ligne Claire mit dynamischen, cartoonhaften Elementen. Er liebt es, Charaktere überzeichnet darzustellen, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Seine Panels sind oft voller Bewegung, seine Bildsprache ist klar und zugänglich.

In DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS spielt er seine Stärken aus. Die Figuren wirken lebendig, die Action ist nachvollziehbar und selbst in den chaotischsten Szenen behält der Leser den Überblick.

 

Innenseite 3 von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

Farben, die man schmecken kann

Für die Farben sorgt wieder einmal Sergio Román a.k.a. Seydas. Seine Farben ergänzen Munuera’s Linien perfekt. Die Palette ist warm, erdig, fast nostalgisch. Sie ist sonnendurchflutet, voller Staub und die Farbgebung trägt viel zur Stimmung des Comics bei. Sie macht die Hitze des Marathons erfahrbar.

Seydas unterstreicht die Atmosphäre dieser Zeit, ohne ins Sepia-Klischee abzurutschen. Die Panels wirken oft wie alte Fotografien, die zum Leben erweckt wurden. Er setzt Akzente, wo es nötig ist, bleibt aber dezent genug, um Munuera’s Linien nicht zu überdecken und trägt somit zum Gesamtbild entscheidend bei.

Drei Asse auf der Rennbahn

Das Trio Toussaint, Munuera und Seydas harmoniert perfekt. Es gelingt ihnen, eine historische Episode mit Witz und Tempo zu erzählen, ohne den Respekt vor den realen Ereignissen zu verlieren. Ihr gemeinsames Werk ist ein Beispiel dafür, wie Teamarbeit im Comic-Bereich funktionieren kann. Wenn jeder seine Stärken einbringt, ist das Ergebnis häufig mehr als die Summe der Teile!

Die visuelle Umsetzung ist ein Genuss für Comic-Fans. Sie zeigt, wie viel Ausdruckskraft im Zusammenspiel von Zeichnung und Farbe stecken kann. Munuera und Seydas liefern hier eine echte Teamleistung ab, die viel zum Charme dieses Comics beiträgt.

 

Innenseite 4 von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

Tempo, Takt und Twists des Marathons

Die bereits angesprochene Erzählstruktur von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS ist ein kleines Kunststück. Der Comic beginnt faktisch mitten im Geschehen, wirft den Leser direkt ins Getümmel. Statt linearer Abhandlung setzt das Kreativteam auf einen episodienhaften Aufbau. Die Handlung springt zwischen den Läufern, den Offiziellen und den Zuschauern hin und her. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Bild des Marathons, das auch die Absurdität der Situation betont.

Die Dramaturgie lebt vom Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Olympischen Spiele gelten als Höhepunkt sportlicher Fairness und Disziplin. Doch in St. Louis regierte das Chaos. Die Autoren nutzen diesen Widerspruch geschickt, um Spannung und Humor zu erzeugen. Immer wieder werden Erwartungen unterlaufen und eingestreute Wendungen überraschen uns. Die Story bleibt dabei stets nachvollziehbar, verliert sich nie in den Nebenschauplätzen.

Vom Trab zum Sprint und zurück

Besonders gelungen ist die Balance zwischen Tempo und Ruhe. Rasante Szenen wechseln sich mit nachdenklichen Momenten ab. Die Autoren nehmen sich Zeit, einzelne Figuren zu beleuchten, ohne den Fluss der Handlung zu bremsen. Der Leser bekommt Einblicke in die Motivationen und Ängste der Protagonisten, was für zusätzliche Tiefe sorgt.

Der Story-Arc folgt dem Verlauf des Marathons, baut aber immer wieder kleine Nebenhandlungen ein, irrlichtert zwischen den Handlungsorten und folgt auch dabei den orientierungslosen Läufern.

Diese Episoden lockern die Geschichte auf, sorgen für Abwechslung, aber am Ende fügt sich alles zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen. Wir bleiben bis zur letzten Seite gespannt, wie das Rennen ausgeht, auch wenn das historische Ergebnis natürlich bekannt ist (Goldmedaille Thomas Hicks).

DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS zeigt, wie man aus einer scheinbar chaotischen Vorlage eine gut strukturierte und packende Geschichte machen kann. Die Autoren beweisen ein feines Gespür für Timing und Dramaturgie.

 

Innenseite 5 von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

Helden, Hasardeure, Pechvögel

Die Charaktere in DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS sind mehr als bloße Staffage. Sie tragen die Handlung, verleihen dem historischen Stoff Persönlichkeit und Tiefe. Kit Toussaint gelingt es, den Läufern und Nebenfiguren jeweils individuelle Stimmen zu geben. Jeder hat seine eigenen Motive, seine Stärken und Schwächen. Das macht die Figuren nahbar.

Besonders auffällig ist die Vielschichtigkeit der Protagonisten. Sie sind keine Helden im klassischen Sinne. Viele sind Getriebene, Opfer der Umstände oder einfach nur Glücksritter. Einige suchen Ruhm, andere wollen nur ins Ziel kommen. Die Autoren zeigen, wie unterschiedlich Menschen mit Stress, Konkurrenz und Rückschlägen umgehen. Das sorgt für Identifikationspotenzial und bringt Humor ins Spiel.

Die Entwicklung der Figuren verläuft subtil. Es gibt keine plakativen Wandlungen, sondern kleine, glaubhafte Veränderungen. Der Leser erlebt, wie die Läufer an ihre Grenzen stoßen, wie sie scheitern oder über sich hinauswachsen. Die Dialoge sind pointiert, oft ironisch, aber nie zynisch. Die Autoren nehmen ihre Figuren ernst, auch wenn sie sie in absurde Situationen schicken.

Neben den Hauptfiguren gibt es eine Vielzahl von Nebencharakteren, die für Kolorit und Abwechslung sorgen. Sie alle tragen dazu bei, das Bild der damaligen Zeit zu malen. Die Autoren schaffen es, auch diesen Figuren Profil zu geben, ohne sie zu Karikaturen zu machen, obwohl gerade sie für die chaotischen Zustände verantwortlich sind.

DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS lebt wahrlich von der Bandbreite seiner Charakteren. Sie machen den Comic zu mehr als einer historischen Nacherzählung. Sie geben dem Stoff Herz und Humor.

 

Innenseite 6 von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

Zwischen Slapstick und Zeitkritik

DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS hebt sich aus dem Feld der Sport- und Historiencomics deutlich ab. Was sofort auffällt, ist der Umgang mit dem historischen Stoff. Statt trockener Rekonstruktion gibt es eine pointierte, fast schon satirische Annäherung an die Ereignisse von 1904. Dieses Rennen kann man wirklich nur mit Humor nehmen. Die Autoren nehmen sich die Freiheit, das Absurde und Groteske der damaligen Situation herauszuarbeiten. Sie zeigen, wie Sport zum Spektakel wird und wie der olympische Gedanke im Chaos untergeht.

Ein Alleinstellungsmerkmal ist daher auch die Mischung aus Humor und Gesellschaftskritik. Der Comic nimmt die nationalen Eitelkeiten aufs Korn, zeigt den Wettkampf als Bühne für menschliche Schwächen und Stärken. Dabei bleibt der Ton stets respektvoll gegenüber den realen Protagonisten. Die Autoren schaffen es, den Wahnsinn der Situation zu vermitteln, ohne die Läufer zu bloßen Witzfiguren zu machen.

DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS ist mehr als eine Nacherzählung eines historischen Marathons. Es ist eine Reflexion über den Sport, über Ehrgeiz, über das Scheitern und die Absurditäten des Lebens. Der Comic lädt zum Nachdenken ein, ohne belehrend zu wirken. Er zeigt, wie man aus einer kuriosen Episode der Geschichte ein packendes, unterhaltsames und kluges Werk machen kann.

(Und wer von Euch bis hierher durchgehalten hat, schafft das letzte Stück auch noch! Hey, hey, hey …)

 

Innenseite 7 von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

Zielgerade

Wie bereits gesagt: Ich bin nicht sportbegeistert, überhaupt nicht. Aber DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS ist ein Comic, der richtig viel Spaß macht, zum Nachdenken anregt und ein Stück Sportgeschichte lebendig werden lässt.

Kit Toussaint, Jose Luis Munuera und Seydas liefern ein Werk ab, das inhaltlich wie visuell überzeugt. Die Mischung aus Humor, Spannung und historischem Kolorit ist selten so gelungen. Der Comic eignet sich für Einsteiger wie für erfahrene Leser. Wer Lust auf eine ungewöhnliche, temporeiche und witzige Graphic Novel hat, sollte hier zugreifen.

Der Comic zeigt, wie viel Potenzial im Medium „Comic“ stecken kann. Er beweist, dass Geschichte nicht trocken und belehrend sein muss, sondern packend und unterhaltsam erzählt werden kann. Wer DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS liest, wird bestens unterhalten und lernt ganz nebenbei noch etwas über die Absurditäten des Sports.

Mein Tipp also: Nicht zögern, sondern loslaufen – dieser Comic geht als Erster durch das Zielband!

 


Cover von DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

DAS RENNEN DES JAHRHUNDERTS

© Splitter Verlag | Hardcover | 96 Seiten | Farbe

Storyline:  ★★★★★

Zeichnungen: ★★★★★

Farben: ★★★★☆

Lettering: ★★★★☆

Humor: ★★★★★

Meine persönliche Bewertung: ★★★★★

ISBN: 978-3-96792-018-5

Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.

 

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