Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Wenn zwei eine Reise beginnen, können sie das aus unterschiedlichsten Gründen tun. In ISOLA begleiten wir eine Menschenfrau und eine Tigerin auf ihrer Reise. Eine Reise, die sowohl körperliche als auch seelische Erlösung verspricht.
Die ersten Seiten von ISOLA ziehen mich sofort in eine Welt, die so fremd wie faszinierend wirkt. Im Zentrum steht die Flucht zweier Figuren: Die Königin Olwyn, durch einen mysteriösen Fluch in eine majestätische Tigerin verwandelt und ihre treue Begleiterin, Captain Rook, Anführerin der königlichen Garde.
Gemeinsam verlassen sie das Königreich Maar, das am Rande eines Krieges steht. Ihr Ziel ist die legendäre Insel ISOLA, die als Land der Toten gilt und als einziger Ort Hoffnung auf Rückverwandlung für Olwyn und somit Erlösung bietet.
Die Handlung entfaltet sich als Reise durch eine magische, von Gefahren und Wundern durchzogene Landschaft. Rook und Olwyn begegnen auf ihrem Weg durch Sümpfe, Wälder und Ruinenstädte nicht nur feindlichen Soldaten, sondern auch fremden Stämmen und rätselhaften Kreaturen. Die Beziehung zwischen den beiden Protagonistinnen steht dabei stets im Mittelpunkt. Rook behandelt die Tigerin mit Respekt und Zuneigung, spricht sie als Hoheit an und kämpft mit aller Kraft für das Überleben ihrer Königin.
Eine Reise ins Ungewisse
ISOLA verzichtet auf ausufernde Erklärungen. Die Welt erschließt sich durch Andeutungen, Blicke und Handlungen. Wir erleben die Geschichte aus der Perspektive der Figuren, die selbst nicht alle Antworten kennen. Die Atmosphäre ist dicht, die Stimmung schwankt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Immer wieder blitzen Erinnerungen an das frühere Leben der Königin auf, doch die Vergangenheit bleibt lange im Dunkeln.
Die Reise ist beschwerlich, voller Rückschläge und unerwarteter Begegnungen. Die Handlung vermeidet dabei Spoiler, denn ISOLA lebt von seinen Geheimnissen. Spannung entsteht aus dem Unbekannten, aus der Frage, ob die Beiden ihr Ziel erreichen und ob es überhaupt Rettung für Olwyn gibt.
Die Geschichte ist ein Märchen für Erwachsene, das mit jeder Seite neue Facetten offenbart und uns dazu einlädt, uns auf eine emotionale und visuelle Entdeckungsreise einzulassen.

Zwischen Stille und Sturm
ISOLA setzt auf eine entschleunigte, fast meditative Erzählweise. Die Handlung entwickelt sich langsam, gibt Raum für Stille und Zwischentöne. Brenden Fletcher verzichtet bewusst auf klassische Exposition. Stattdessen tauche ich direkt in die laufende Flucht ein. Die Gründe für Olwyn’s Verwandlung und die politischen Intrigen im Hintergrund werden nur angedeutet. Diese Zurückhaltung erzeugt eine besondere Spannung, denn jede Information muss ich mir selbst erarbeiten.
Der Story-Arc folgt dem Muster einer Heldenreise, bleibt dabei aber angenehm unkonventionell. Rook und Olwyn sind keine klassischen Heldinnen. Ihre Schwächen, Zweifel und die tiefe Verbundenheit machen sie zu interessanten, glaubwürdigen Figuren. Die Reise nach ISOLA ist nicht nur ein äußeres Abenteuer, sondern auch eine innere Suche nach Identität, Hoffnung und Vergebung.
Die narrative Dramaturgie lebt von der Balance zwischen ruhigen Momenten und plötzlichen Gefahren. Immer wieder geraten die Beiden in Situationen, die sie an ihre jeweiligen Grenzen bringen. Gleichzeitig gibt es Passagen, in denen die Natur, die Farben und die Stille dominieren. Die Panels wirken wie Standbilder eines Animationsfilms der 80er Jahre, wie z.B. FIRE AND ICE.Die Handlung schreitet oft wortlos voran. Diese visuelle Erzählweise fordert meine Aufmerksamkeit, belohnt mich aber auch mit einer einzigartigen Atmosphäre.
Kritisch betrachtet, kann die langsame Entwicklung natürlich auch als Schwäche empfunden werden. Im ersten Band gibt die Erzählung noch wenig preis und lässt viele Fragen offen. Andererseits macht gerade diese Zurückhaltung den Reiz von ISOLA aus. Die Geschichte entfaltet sich wie ein Puzzle und erst nach und nach entsteht das ganze Bild.

Kreative Synergie
Hinter ISOLA stehen drei Namen, die in der Comic-Welt längst keine Unbekannten mehr sind. Brenden Fletcher, der Szenarist, hat sich mit Werken wie MOTOR CRUSH, GOTHAM ACADEMY oder auch BATGIRL einen Namen gemacht. Seine Geschichten zeichnen sich aus durch starke Figuren, innovative Settings und eine Vorliebe für ungewöhnliche Erzählstrukturen. Fletcher versteht es, klassische Motive neu zu interpretieren und ihnen eine moderne, emotionale Tiefe zu verleihen.
Karl Kerschl, der Zeichner, ist ein vielfach ausgezeichneter Künstler. Er gewann unter anderem den EISNER AWARD für seinen Webcomic THE ABOMINABLE CHARLES CHRISTOPHER. Er arbeitete für DC Comics an Serien wie THE FLASH, TEEN TITANS und GOTHAM ACADEMY. Sein Stil ist geprägt von klaren Linien, dynamischen Kompositionen und Liebe zum Detail. In ISOLA zeigt er mit epischen Landschaften bis zu fein nuancierten Gesichtsausdrücken die ganze Bandbreite seiner Möglichkeiten.
Die Farben stammen von Msassyk, bürgerlich Michele Assarasakorn. Sie hat unter anderem an GOTHAM ACADEMY und THE HUNGER AND THE DUSK mitgewirkt. Ihr Kolorierungsstil ist atmosphärisch, lebendig und verleiht ISOLA eine märchenhafte, fast filmische Qualität.
Die Zusammenarbeit der drei ist spürbar harmonisch. Jeder bringt seine Stärken ein und es ist ein Comic entstanden, der wie aus einem Guss wirkt.

Starke Frauen, starke Gefühle
ISOLA lebt von seinen beiden Hauptfiguren. Rook, die loyale Kriegerin, ist eine Frau voller Widersprüche. Sie ist mutig, entschlossen und bereit, alles für ihre Königin zu riskieren. Gleichzeitig zeigt sie Verletzlichkeit, Zweifel und eine tiefe emotionale Bindung zu Olwyn. Ihre Entwicklung ist subtil, aber spürbar. Im Verlauf der Geschichte wächst sie über sich hinaus und lernt, sich ihren Ängsten zu stellen.
Olwyn, die verwandelte Königin, bleibt lange ein Rätsel. Ihre Gedanken und Gefühle werden meist nonverbal vermittelt. Tiger sprechen nicht. Ihre Körpersprache erzählt mit Blicken und kleinen Gesten mehr als viele Worte. Die Beziehung zwischen Rook und Olwyn ist komplex. Sie basiert auf Vertrauen, Loyalität und einer unausgesprochenen Vergangenheit. Die Dynamik zwischen den beiden ist das emotionale Herzstück von ISOLA.
Nebenfiguren treten nur sporadisch auf, sind aber stets markant gestaltet. Sie bereichern die Welt, ohne die Hauptgeschichte zu überfrachten. Die Charakterentwicklung erfolgt oft in kleinen Schritten, durch Handlungen und Reaktionen statt durch Dialoge.
Kritisch könnte man anmerken, dass manche Nebenfiguren etwas blass bleiben. Doch im Fokus stehen klar Rook und Olwyn und das funktioniert hervorragend.

Animation auf Papier
ISOLA ist ein visuell beeindruckendes Werk. Karl Kerschl und Msassyk erschaffen eine Welt, die in ihrer Schönheit und Detailverliebtheit ihresgleichen sucht. Die Panels sind oft wie Gemälde komponiert, die Farben leuchten in satten Tönen und schaffen eine märchenhafte Atmosphäre. Die Natur spielt eine zentrale Rolle. Wälder, Sümpfe, Berge und Ruinen werden mit einer solchen Sorgfalt dargestellt, dass man als Leser immer wieder innehalten möchte, um die Bilder zu genießen.
Die Panelstruktur ist flexibel, wechselt zwischen klassischen Anordnungen und großflächigen Splash-Pages. Diese visuelle Dynamik verstärkt die Wirkung der Geschichte. Die Kolorierung von Msassyk ist ein weiteres Highlight. Sie setzt auf weiche Übergänge, stimmige Lichtstimmungen und eine Farbpalette, die die emotionale Lage der Figuren widerspiegelt. Besonders beeindruckend ist die Darstellung der Tigerin. Olwyn wirkt majestätisch, verletzlich und ausdrucksstark zugleich.
ISOLA nehme ich als „Animation zum Blättern“ wahr. Die Bilder erzählen einen Großteil der Geschichte, der Text tritt in den Hintergrund. Das fordert mich, belohnt mich aber mit einem einzigartigen Leseerlebnis. Überstrahlt die visuelle Opulenz manchmal die Handlung? Vielleicht. Doch gerade das macht den Reiz dieses Comics aus.

Von Miyazaki bis Orpheus
ISOLA schöpft aus einem reichen Fundus an Mythen und Legenden. Die Geschichte erinnert an klassische Märchen, an Sagen von Flüchen, Verwandlungen und gefährlichen Reisen. Auffällig ist die Nähe zu Werken von Hayao Miyazaki, etwa PRINZESSIN MONONOKE oder CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND. Die Autoren selbst bekennen sich zu Miyazaki als Inspiration. Die Verbindung von Natur, Magie und einer weiblichen Hauptfigur spiegelt sich deutlich wider.
Auch der Mythos von Orpheus und Eurydike klingt an. Die Reise ins Land der Toten, die Hoffnung auf Erlösung, das Motiv der Verwandlung, all das sind klassische Themen, die ISOLA aufgreift und neu interpretiert. Die Welt dieses Comics ist dabei eigenständig, vermeidet aber bewusst klassische Fantasy-Klischees. Statt Ritter und Drachen gibt es hier fremdartige Tiere, geheimnisvolle Stämme und eine Natur, die ebenso bedrohlich wie schützend wirkt.

ISOLA – Ein modernes Märchen für Erwachsene
ISOLA ist ein Comic, der Maßstäbe setzt. Die Kombination aus atmosphärischer Erzählweise, beeindruckender Optik und tiefgründigen Figuren macht das Werk zu einem Highlight moderner Fantasy. Die Geschichte ist spannend, emotional und voller Geheimnisse. Die Zeichnungen und Farben sind auf höchstem Niveau, die Zusammenarbeit der Kreativen ist vorbildlich.
Natürlich ist ISOLA kein Comic für jedermann. Wer schnelle Action, klare Antworten und klassische Helden sucht, wird hier nicht fündig. Wer sich jedoch auf die Reise einlässt, wird mit einer einzigartigen Leseerfahrung belohnt. ISOLA ist ein Comic, der zum Nachdenken anregt, der berührt und – vielleicht sogar – begeistert. Ein Werk halt, das man immer wieder zur Hand nehmen möchte, um neue Details zu entdecken.
Mein Tipp: Das Werk ist bei Cross Cult leider verlagsvergriffen. Falls Du die Bände aber im gut sortierten Comic-Shop Deiner Wahl findest, gib‘ ISOLA eine Chance und lass‘ Dich auf die Reise ein. Genieß‘ die Bilder, spüre die Atmosphäre. Dieses Abenteuer lohnt sich…

ISOLA
© Cross Cult Verlag | Softcover | 168 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★☆☆
Zeichnungen: ★★★★★
Farben: ★★★★★
Lettering: ★★★☆☆
Humor: ☆☆☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★☆
ISBN: 978-3-95981-358-7
Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.
Bände der Reihe:





