Tiger, Schneemänner und Spacemen – CALVIN UND HOBBES

CALVIN & HOBBES leuchtet wie der hellste Komet in der Galaxie der Zeitungs-Comics. Die Strips entfalten seit ihrem Debüt am 18. November 1985 eine Magie, die andauert, obwohl Zeitungs-Comics seit Jahren der Vergangenheit angehören. Heute vor 30 Jahren, am 31. Dezember 1995 erschien der letzte Strip dieser einzigartigen Reihe. 

An seinem ersten Erscheinungstag wurde der Strip in 35 Zeitungen veröffentlicht, zuletzt waren es rund 2.400. In den 10 Jahren dazwischen wurden 3.160 tägliche (!) Comic-Strips publiziert. Dreitausend-einhundert-sechzig, eine unvorstellbare Zahl. Ja, es waren Strips bei denen es durchaus qualitative Höhen und Tiefen gab. Aber Bill Watterson hat die Latte für alle, die nach ihm kamen, sehr, sehr hoch gelegt. Jetzt ist aber Schluss mit all den Zahlen!

In diesem Artikel geht es nicht nur um eine Kinderfreundschaft, sondern um ein lebenskluges, witziges Plädoyer für eben diese Freundschaft, gepaart mit ausufernder Fantasie und der Kunst, die Tür zum Abenteuer im Alltag immer einen Spalt offen zu halten.

 

Mit den Abenteuern des sechsjährigen Calvin und seines Stofftigers Hobbes hat Autor Bill Watterson einen Zeitungscomic geschaffen, dessen magische Qualitäten bis heute unerreicht sind. […] Calvin ist Chaos! Ob Eltern, Babysitterin oder Nachbarstochter: Der Bengel treibt seine Umwelt mit Spitzfindigkeiten und den absurdesten Streichen an den Rand des Wahnsinns. Wenn er nicht gerade als „Raumfahrer Spiff“ oder mächtiger Dinosaurier im Reich seiner überbordenden Fantasie unterwegs ist.

Einzig seinem besten Freund, dem liebenswerten Stofftiger Hobbes, gelingt es, den hyperaktiven Calvin auf den Boden der Tatsachen zu holen. Wenn auch nie für lange, denn eine zünftige Partie Calvin-Ball, eine Vereinssitzung des E.M.S.V. (Eklige Mädchen Sollen Verduften) oder ein tiefschürfendes Gespräch über Zuckerbomben mit Schokoguss sind schließlich auch nicht zu verachten. Hobbes ist ja kein Spielverderber! [Verlagstext]

 

Drei Strips zum Einstieg

In manchen Strips zeigt uns Bill Watterson einen Gag, in anderen verbindet er seine narrative Kunstfertigkeit zu einer Fortsetzungsgeschichte, die sich über mehrere Strips entwickelt. Aber immer endet die aktuelle Bildfolge mit einer wohlgesetzten Pointe. Dies ist ein wichtiges Merkmal der Zeitungsstrips der damaligen Zeit.

Fantasie zwischen Keksdose und Urknall

CALVIN & HOBBES erzählt die Geschichte des ewig sechsjährigen Calvin, dessen wildes, widerspenstiges Herz einzig von seinem getigerten Weggefährten Hobbes verstanden wird. Auf dem Papier ist Hobbes ein Plüschtier. Doch kaum sind Erwachsene außer Reichweite, verwandelt er sich für uns blitzschnell in einen sprechenden, bestens aufgelegten Tiger.

Mit ihm an seiner Seite geht Calvin auf atemberaubende Fantasiereisen. Da wird das Wohnzimmer zur außerirdischen Dschungellandschaft, das Badezimmer zum See voller Monster, der Schulhof zum Planeten einer Alieninvasion. Jede noch so graue Kleinigkeit des Alltags wird im Kopf des Jungen zur Rakete für große, oft absurde Abenteuer.

Die Erzählstruktur der Comicstrips ist schlau angelegt. Oft reicht ein einziger Blick, ein Satz oder die absurde Klage über das vermeintliche Leiden am Erwachsensein, um einen Bogen vom Alltäglichen zum Kosmischen zu schlagen.

So sieht Calvin im strengen Schuldirektor prompt einen außerirdischen Spion, der mit teuflischen Hausaufgaben die Welt unterjochen will. In anderen Strips plant Calvin genüsslich destruktive Attacken auf seine Nachbarin Susie oder philosophiert (mal kindlich-naiv, mal entwaffnend klarsichtig) über die großen Fragen von Zeit, Existenz und Moral.

Trotz aller Sprunghaftigkeit pendelt CALVIN & HOBBES immer zwischen den Extremen und euphorischer Übermut trifft auf melancholische Nachdenklichkeit. Denn so uneingeschränkt Calvin mit seinem Tiger durch Traumlandschaften jagt, so regelmäßig kracht er zurück auf den Boden der unnachgiebigen Wirklichkeit.

Die Pointen blühen auf der Diskrepanz zwischen dem Wunsch, die Welt zu formen, und der Frustration, ihr ausgeliefert zu sein. Was anfangs als ulkige Alltagsflucht erscheint, entwickelt sich zunehmend zur Meditation über Kindheit, Freundschaft, Identität – und die Fähigkeit, mit kindlichem Staunen die Welt täglich neu zu begreifen.

 

Zwei, die die Welt neu erfinden

Im Zentrum des Strips strahlt die kontrastreiche Freundschaft zwischen Calvin und Hobbes. Calvin platzt vor Energie, Fantasie und Renitenz. Er rebelliert gegen Hausaufgaben, Zähneputzen und jede Form von Kontrolle.

Sein Vater ist die verkörperte Ironie, seine Mutter die stoische Geduld, die Lehrerin das Sinnbild pädagogischer Frustration, doch wirklich ernst nehmen kann Calvin nur Hobbes. Dieser besitzt alles, was Calvin fehlt: Gelassenheit, ein ausgeprägtes Verständnis für Ironie, das rechte Maß an Nachsicht und gelegentlicher Raubtierlust.

Hobbes oszilliert zwischen Spiegelbild, Korrektiv und subversivem Draufgänger. Mit seiner sanften, oft spöttischen Klugheit erdet er Calvin. Die Dialoge sind funkelnde Wechselspiele, in denen sich philosophisch grundierte Nachdenklichkeit mit anarchischem Klamauk paaren.

Während Calvin bei seinen Ausflügen ständig moralische und existenzielle Grenzen testet, mahnt Hobbes immer wieder zur Reflexion und Menschlichkeit – wenn er nicht selbst zur Attacke übergeht oder sich das nächstbeste Sandwich stibitzt.

Die Dynamik erinnert frappierend an wiederkehrende Paarkonstellationen der Comicgeschichte, doch selten wurden Ego und Über-Ich, Impuls und Vernunft so subversiv miteinander verbunden.

Auch in den Nebenfiguren spiegelt sich eine stimmig gezeichnete, analoge Vorstadtwelt. Ob Eltern, Rektor, bullige Mitschüler oder die smarte Nachbarin Susie: sie alle tauchen in Calvins Vorstellungswelt transformiert auf. Sie sind mal Monster, mal Helden oder bloßes Inventar für seine Fantastereien.

Jeder Charakter gewinnt Kontur durch Calvin’s überbordende Fantasie und zeigt zugleich etwas Grundsätzliches über menschliche Beziehungen, Macht und Ohnmacht.

 

Ein Mann, ein Tiger, ein Comic-Weltwunder

CALVIN & HOBBES ist das Werk von Bill Watterson (im deutschen Sprachraum teils auch als William Watterson II geführt). Der 1958 geborene US-Amerikaner prägte mit seiner Serie eine ganze Generation von Leserinnen und Lesern. Ursprünglich als kleiner Strip in der Lokalzeitung gestartet, wurde die Serie bald zu einem internationalen Phänomen. Auf dem Höhepunkt ihrer Popularität erschien sie weltweit in Hunderten Zeitungen, doch lehnte Watterson – gegen allen wirtschaftlichen Menschenverstand – jegliche Vermarktung seiner Figuren als Trickfilm, Serie oder Merchandise kategorisch ab.

Bill Watterson ist bekannt für seine kompromisslose, romantisch verklärte – und äußerst humorvolle – Haltung gegenüber Kunstfreiheit. In der Comic-Szene gilt er daher als widerspenstiger Erneuerer.

Er lotete die engen Rahmen des Zeitungsstrips künstlerisch wie erzählerisch immer weiter aus und hielt dabei einen einzigartigen Stil zwischen klassischer Linie und visueller, experimenteller Freude. Neben CALVIN & HOBBES hinterließ er vor allem Spuren in der Debatte um die Comic-Kunst an sich, Veröffentlichungsrechte und anti-kommerzielle Haltung. Zahlreiche Comicautoren wie z.B. Art Spiegelman oder die PEANUTS-Erben sehen ihn als kreativen Wegbereiter.

Bilder, die träumen wollen

Was CALVIN & HOBBES in der visuellen Abteilung vollbringt, begeistert mich immer wieder auf’s Neue und ist einfach bahnbrechend. Die Panels leben von einer unglaublichen Dynamik. Ob rollende Wälder für rasante Schlittenfahrten, verwaschene Regenstürme als melancholisches Intermezzo oder minimalistische Portraits punktgenauer Ironie: Watterson zieht souverän alle Register der Zeichenkunst. Die Vielseitigkeit reicht von locker-flirrenden Federstrichen bis hin zu detailverliebten Splash-Panels, wie sie für Sonntagsseiten typisch sind.

Besonders bemerkenswert ist die expressive Mimik von Calvin. Mit wenigen Strichen springt Watterson von Ekstase zu tiefster Verstörung oder rührender Nachdenklichkeit. Die Dramaturgie funktioniert auf mehreren Ebenen. Während die wortlosen Gags auch für Kinder verständlich bleiben, baumeln viele Anspielungen und Meta-Kommentare wie versteckte Bonbons im Bild für uns Erwachsene.

Die Gestaltung der Traumsequenzen, etwa wenn Calvin als „Spaceman Spiff“ durchs All jagt, ist ein Fest für die Augen. Auch in Schwarz-Weiß bleibt die visuelle Wucht ungebrochen.

Revolution aus der Rappelkiste

CALVIN & HOBBES erschien in einer Zeit, als die Comic-Strips in den Zeitungen zunehmend standardisiert und stromlinienförmig wurden. Watterson stemmte sich sowohl mit erzählerischer, als auch stilistischer und politischer Finesse dagegen.

Durch seine Weigerung, die Figuren ins Konsum-Karussell zu schicken, setzte er ein zudem wichtiges Zeichen gegen Kommerzialisierung und für künstlerische Autonomie.

Thematisch greift CALVIN & HOBBES Debatten auf, die den jeweiligen Zeitgeist widerspiegeln, manchmal subtil, manchmal aber auch mit der Brechstange. Kritik an der Konsumgesellschaft, Betrachtungen über Umwelt, Bildung, mediale Überforderung und das moderne Familienleben durchziehen die Strips, ohne moralisch zu belehren.

Die Beziehung zu anderen Comic-Klassikern ist offensichtlich. Doch während die PEANUTS ihre Welt zumeist melancholisch und resigniert erleben, zelebrieren CALVIN & HOBBES den anarchischen Spaß und den Widerstand gegen die Erwachsenenlogik mit einer Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht.

 

Eigen-Sinn und Tiger-Biss

Watterson sprengt in CALVIN & HOBBES nicht nur die Grenzen der Formatvorgaben für Zeitungscomics. Er inszeniert Panel, die von philosophischer Tiefe bis zum hintergründigen Klamauk reichen.

Besonders prägnant bleibt der Verzicht auf eine fortlaufende Handlung. Jedes Abenteuer, jede Krise, jeder Gag steht wie eine Miniatur für das große Ganze. So erreicht der Comic eine emotionale und intellektuelle Bandbreite zwischen absurdem Alltagswitz und existenzieller Reflexion, die in der Comiclandschaft herausragt.

Ungewohnt bleibt auch, dass der Strip jede Vermarktung verweigert. Keine Animationsfilme, keine Actionfiguren, kein T-Shirt-Universum. Der Wunsch, CALVIN & HOBBES ausschließlich als gezeichnete Figuren weiterleben zu lassen, bewahrt ihnen einen Zauber, den kaum eine andere Serie so lange halten konnte. Alles, was – außer Büchern – mit CALVIN & HOBBES Motiven erhältlich ist, kann getrost als nicht autorisiert betrachtet werden.

Einzigartig wie Tigerstreifen

CALVIN & HOBBES bleibt ein zeitloses Meisterstück, das Grenzen überschreitet und Leserinnen und Leser aller Generationen inspiriert. Der Comic glänzt als Abenteuerreise für den Geist und als liebevolle Hommage an das kreative Potenzial des kindlichen Blicks. Wer sich auf CALVIN & HOBBES einlässt, reist zwischen urkomischen Alltagskatastrophen, existenziellen Gedankenspielen und poetischen Momentaufnahmen hin und her. Die raffinierten Zeichnungen, pointierten Dialoge und das anarchische Herz der Figuren laden zum Staunen, Lachen, Nachdenken und – nicht zuletzt – zum Kind-sein ein. Immer wieder aufs Neue!

Dieser Comic gehört für mich in jedes Was-Nimmst-Du-Mit-Auf-Die-Einsame-Insel-Paket und in jedes Comic-Regal.

Egal ob Sammler oder Neueinsteiger: Diese Comic-Strips sind ein wichtiger, unverzichtbarer Teil unserer Popkultur und ein Geschenk für alle, die Humor mit Haltung, Zeichnung mit Gehalt und Fantasie mit bissigem Witz lieben.

Wer Calvin und seinen Tiger noch nicht kennt, sollte ihnen unbedingt begegnen – auf der nächsten Zeitungsseite, im Comicladen oder direkt als Gesamtausgabe. Man bleibt dabei garantiert nicht derselbe. Um es mit den letzten Worten von Calvin heute vor 30 Jahren zu sagen: „Let’s go exploring!“

P.S:

CALVIN & HOBBES erhielt 1990 den Max-und-Moritz-Preis als bester internationaler Comicstrip und 2007 den Sondermann-Preis 2007 als bester Comic International 2007. Zuuuuuu recht! 

 


CALVIN UND HOBBES

© CARLSEN VERLAG | Hardcover | 1456 Seiten | Schwarz-Weiß und Farbe

Storyline:  ★★★★★

Zeichnungen: ★★★★★

Farben: ★★★☆☆

Lettering: ★★★★☆

Humor: ★★★★★(★)

Meine persönliche Bewertung: ★★★★★(★)

ISBN: 978-3-551-78907-5 (Gesamtausgabe)

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