Cover von DIE FLÜSSE DER VERANGENHEIT 2

DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT – Lamia

Bei „DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT- Die Diebin“ hatten mich die großartigen Zeichnungen von Yannick Corboz motiviert, mir den Comic einmal näher anzuschauen. Nach der Lektüre dieses Albums blieben allerdings noch viele Fragen ungeklärt. Die Hoffnung, dass diese Fragen im nächsten, jetzt kommenden Band beantwortet würden, war groß. „DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT – Lamia“ ist nun der zweite und damit der Abschlussband des hier erstmals besprochenen wilden Ritts durch Raum und Zeit. Um es vorweg zu nehmen: Fragen sind geblieben und sogar neue hinzugekommen.

 

Innenseite 1 von DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEITAuf den Spuren eines vergessenen Pharaos

Paris, unsere Gegenwart und doch eine Vorgeschichte. Lamia, eine ambitionierte Archäologin mit Gespür für das Mysteriöse, stößt in einer Ausstellung über das alte Ägypten auf einen bislang kaum beachteten Sarkophag. In ihm finden sich Hinweise auf einen vergessenen Pharao: Eje, den Nachfolger Echnatons, eine Figur der Geschichte, die  von Legenden und theologischer Sprengkraft umrankt ist.

Doch was als wissenschaftliche Neugier beginnt, entwickelt sich rasch zu einer grenzüberschreitenden Jagd nach der Wahrheit, einer Jagd durch die Zeit und durch alternative Realitäten.

Die Spur führt Lamia nicht nur zu archaischen Artefakten sondern auch zu einem düsteren Portal, genauer zu einer Brücke zwischen den Welten, welche das heutige Paris mit einem alternativen Venedig verbindet („Stargate“ und der „Bifröst“ der Nordmänner lassen grüßen).

Venedig’s zerstörte Stadtlandschaft, bevölkert von bizarren – und uns bereits bekannten – Kreaturen namens Shayk, entzieht sich jeder physikalischen Logik. Vergangenheit, Fantasie und metaphysische Fragmente verschmelzen in ihr zu einem bedrohlichen, aber auch faszinierenden Geflecht.

An Lamia’s Seite finden wir Linn, die gerissene Diebin mit eigenen Interessen und ebenso dunkler Vergangenheit, die wir bereits aus dem ersten Band kennen. Gemeinsam werden sie Teil einer Suche, die über bloße Archäologie hinausgeht und die Beiden viel abverlangen wird.

Der Sinn dieser Reise ist keiner nach glitzernden Schätzen. Vielmehr geht es um den Ursprung des Glaubens an sich, um die Idee des Monotheismus – also des Glaubens an einen einzigen Gott – und um die Kraft der Angst.

 

 

Innenseite 2 von DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT

Monotheismus und Angst: Die dunklen Seiten der Geschichte

Der zweiten Band von DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT erzählt uns eine Geschichte, die sich mit der Frage auseinandersetzt, ob Religion ursprünglich als moralisches System oder doch als Herrschaftsinstrument entstanden ist.

Diese Frage wird nicht einfach didaktisch vorgetragen, sondern visuell und narrativ erfahrbar gestaltet. Wie würden wir bei diesem trockenen Thema sonst auch am Ball bleiben?

Wir begleiten Lamia und Linn auf eine sowohl emotionale wie geistige Reise. Eine Reise, die sie an Grenzen führt, die weit über die ihrer eigenen, bekannten Welt hinausgeht.

 

Innenseite 3 von DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT

DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT: Zwei Bände, zwei Welten

Der erste Band des Zweiteilers DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT stellte Linn, die Diebin, ins Zentrum. Sie ist eine charismatische Frau, die durch den Raub eines antiken Artefakts in die Geschichte verwickelt wird. Die Atmosphäre dieses Albums war eher die einer Crime-Noir-Fantasy, das Szenario urbaner, handfester, weniger philosophisch. Das Tempo war hoch und mit einer suggestiven Farb- und Bildsprache versehen.

Der zweite Band bringt nun mehr Ruhe, mehr Tiefe, dafür allerdings auch größeren Erklärungsbedarf. Dieser Band scheint bewusst ein anderes Zielpublikum ansprechen zu wollen. Als Fortsetzung funktioniert das Album, aber es verschiebt den Schwerpunkt ganz klar von Action auf die Vermittlung philosophischen Wissens. Alles nur Fantasy? Nein, auch wenn erst mit einer eigenen Recherche des Thema’s klar wird, wie nah sich die Autoren an der realen Historie orientiert haben.

Auch wenn sich der Focus verschiebt, so bleiben die Shayk die größte Bedrohung für unsere Protagonistinnen. Wie schon im ersten Band sorgen sie weiterhin für die körperlichen Gefahren.

 

Innenseite 4 von DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT

Zwischen archäologischem Eifer und Überlebensinstinkt

Lamia, die aktuelle Haupt-Protagonistin des Albums, ist keine klassische Heldin. Sie ist gebildet, forschend, aber auch kompromisslos und (teilweise) impulsiv. Ihr Antrieb sind nicht primär Ruhm oder Erkenntnis, vielmehr ein instinktiver Drang, einer größeren Wahrheit auf die Spur zu kommen. Koste es, was es wolle.

Im ersten Band wurde sie von Desberg als kontrollierte Wissenschaftlerin etabliert. Im zweiten Band schlägt ihre Persönlichkeit nun gelegentlich in Überheblichkeit oder Pathos um. Ihre „offenherzige“, unangepasste und an manchen Stationen ihrer Reise sogar unangemessene Kleidung sowie ihre Attitüde erschienen mir manchmal zu inszeniert, zu elitär und mindern für mich das Identifikationspotenzial mit dieser Frau. Sie ist keine Femme Fatale. Ihre Charakterzeichnung gibt dies nicht her und ihr äußeres Erscheinungsbild führt mit dem gezeigten Auftreten zu einer kognitive Dissonanz, falls wir ihr kein Borderline-Syndrom unterstellen möchten.

Demgegenüber wirkt Linn, ihre Begleiterin, ganz anders. Sie erscheint immer noch geerdet, schlagfertig und moralisch flexibel. Sie ist eine Figur, die von der Straße kommt. Sie kennt ihre Regeln und biegt sie, wenn es nötig sein sollte. In vielen Momenten stiehlt sie Lamia die Show, nicht nur bei den Dialogen, sondern weil sie das narrative Gegengewicht bietet. Wo Lamia forscht, treibt Linn die Geschichte. Wo Lamia zweifelt, handelt Linn.

Die übrigen Figuren – von zwielichtigen Wissenschaftlern bis zu mythischen Wesen – sind zwar atmosphärisch gelungen, bleiben aber mit Ausnahme des Herrn der Angst eher Funktionsträger als komplexe Charaktere. Das ist kein Manko, sondern ein strukturelles Stilmittel. Die Bühne gehört klar den zwei Protagonistinnen und dem Herrn der Angst.

Nebenfiguren aus dem ersten Band, wie z.B. der Hauptmann der Wache, die damals zu interessanten, handlungsfähigen und -tragenden Charakteren aufgebaut wurden, spielen im aktuellen Album keine Rolle mehr. Auch dies trägt leider zu dem Eindruck bei, dass die beiden Bände nicht aus einem Guss sind.

Innenseite 5 von DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT

Skizze trifft Atmosphäre: Corboz in Hochform

Corboz‘ Zeichenstil ist erneut eines der Aushängeschilder dieses Comics. Die Zeichnungen in DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT schwanken zwischen kraftvoller Energie und malerischer Eleganz. Corboz agiert an der einen Stelle skizzenhaft grob, an anderer mit filigranen Details, mit Pinselstrichen, die aus der Romantik zu stammen scheinen. Der Verzicht auf digitale Kälte zugunsten einer aquarellierten Kolorierung verleiht dem Album beinahe eine Haptik. Man glaubt, das Papier und seine Struktur fühlen und manchmal sogar riechen zu können.

Die Farbgebung wiederum unterstützt gezielt die emotionale Tonlage der gezeigten Szenen. Warme Ocker- und Sepia-Töne für das alte Ägypten, glas-grünlich düstere Szenen im Venedig der Alternativwelt und ein kaltes Stahlblau in der Gegenwart. Corboz nutzt die gesamte Bandbreite der visuellen Möglichkeiten, ohne je in bloße Effekthascherei zu verfallen.

Allerdings wirken manche Gesichter gelegentlich unsauber, manche Szenen unklar komponiert. Doch gerade das Unfertige, das Skizzenhafte, passt zum fragmentierten, zerrissenen Weltbild der Erzählung. Wer Hochglanz-Perfektion erwartet, könnte enttäuscht werden. Wer Atmosphäre sucht, wird mit diesen Bänden belohnt.

 

Innenseite 6 von DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT

Zeitreise mit Stolpersteinen

Stephen Desberg konstruiert in DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT keine lineare Handlung, sondern eine Collage aus Geschehnissen, Erinnerungen, Mythen, historischen Bezügen und metaphysischen Konzepten.

Die Geschichte springt zwischen Ebenen und Zeiten. Rückblenden sind nicht klar markiert, sondern erscheinen wie Erinnerungen, überlagern mit einer Gegenwart, von der man nie genau weiß, ob sie real ist oder nicht. Identitäten und Motivationen verwischen. Dies ist erzählerisch herausfordernd und die Handlung erscheint dadurch gelegentlich überfrachtet.

Der Wechsel zwischen manchen Szenen ging mir zu schnell bzw. wurde für meinen Geschmack zu wenig erklärt. Andererseits liegt in dieser Struktur sowohl Stärke als auch Schwäche des Comics.

Wer sich auf das Erzählerische einlässt, kann darin durchaus eine ansprechende Reflexion über Zeit und Interpretationen erleben. Die Wahrheit liegt nun mal im Auge des Betrachters. Wer Klarheit und eine stringente Handlung erwartet, dürfte eher verwirrt zurückbleiben.

 

Innenseite 7 von DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT

Shayk ohne Ursprung? Der Reiz des Ungelösten

Gut gelungen ist der Wechsel von Tempo und Rhythmus. Rasante Szenenwechsel kontrastieren mit ruhigen Momenten innerer Reflexion. Bildlich gesprochen gleicht der erzählerische Fluss einem Strom mit Stromschnellen und Unterströmungen. Ja, tempus fugit.

Der Abschlussband schafft es leider nicht, meine offenen Fragen des ersten Albums zu beantworten. Vielleicht will Desberg dies auch gar nicht. Mir persönlich gefallen keine Storylines, die mich mit so vielen offenen Fragen zurücklassen. Insbesondere die Frage, woher die Shayk stammen, wie sie in diese Welt gelangt sind und warum es keinen wirksamen Schutz gegen ihren wilden Attacken zu geben scheint, lassen mich unbefriedigt zurück.

Die Shayk sind in dieser Erzählung die physische Bedrohung schlechthin und treten in unterschiedlichsten Ausprägungen immer wieder auf. Das bei so viel Metaphysik nichts zu ihrer Entstehung geliefert wird, finde ich bedauernswert. Sie verkommen damit zu einem reißerischen Mittel.

Auch scheint der Herr der Angst in diesem Band keine – oder nur noch eine geringe – Macht über diese Wesen ausüben zu können. Auch hierzu fehlt jegliche nachvollziehbare Erklärung. Der erste Band hatte hierzu noch einen ganz andere Eindruck vermittelt.

 

Innenseite 8 von DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT

Fazit: Kein einfacher, aber ein lohnender Comic

Die Entstehung des Comics hat sich wohl über mehrere Jahre hingezogen. Das sieht man ihm an. Besonders bemerkenswert ist die notwendige, intensive Recherche zu ägyptischen Mythen und monotheistischen Ursprüngen, die Desberg gemeinsam bei Historikerinnen und Historikern durchgeführt haben dürfte. Seine Sorgfalt scheint im Laufe der Erzählung dazu an vielen Stellen durch.

„DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT – Lamia“ ist kein einfacher Comic, aber ein lohnenswerter. Wer sich auf eine Erzählung einlässt, die mit Konventionen bricht, die sich nicht um die Erwartungen der Leserschaft schert und die lieber Fragen stellt als Antworten liefert: Der wird belohnt!

Wer hingegen nach einem geradlinigen Abenteuer mit eindeutigen, narrativen Strängen sucht, wird sich beim ersten Lesen möglicherweise etwas verloren fühlen.

Das Album ist ein Werk für Leserinnen und Leser, die visuelle Qualität, erzählerischen Mut und intellektuelle Tiefe zu schätzen wissen und die sich gerne zu wiederholtem Lesen einladen lassen. Und genau das werde ich jetzt noch einmal tun …

 


Cover von DIE FLÜSSE DER VERANGENHEIT 2DIE FLÜSSE DER VERGANGENHEIT – Lamia (Band 2 von 2)

© ZACK Edition | Hardcover | 72 Seiten | Farbe

Storyline:  ★★★☆☆

Zeichnungen: ★★★★★

Farben: ★★★★☆

Lettering: ★★☆☆☆

Humor: ☆☆☆☆☆

Meine persönliche Bewertung: ★★★☆☆

ISBN: 978-3-949987-39-7

Informationen zu den Bildrechten findest Du hier.

 

 

 


Die Bände der Reihe:

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