Es gibt sie noch, diese außergewöhnlichen Comics, die Fakten und Fiktion zu spannenden, informativen Geschichten verweben. EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE ist so ein außergewöhnlich vielschichtiger Comic, der durch seine kluge Verbindung historischer Fakten und kreativer Fiktion besticht.
Yves Sente ist bekannt für komplexe Charakterzeichnungen und raffinierte Handlungsstränge. Sein Partner, der Zeichner Steve Cuzor, setzt mit seinen dynamische, atmosphärische Illustrationen regelmäßig neue Maßstäbe. Die Beiden vereinen nun im vorliegenden Album erzählerische Kraft mit grafischer Kunstfertigkeit.

Revolutionäre Ideen und geheime Symbole
Bereits die zeitliche Eröffnung von EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE markiert das Werk als historischen Thriller mit außergewöhnlicher Tiefe. Im Jahr 1776 wird Elisabeth „Betsy“ Ross von George Washington – ja, genau dem! – beauftragt, die erste Flagge der Vereinigten Staaten anzufertigen. Die Legende um die Flagge, deren Wahrheit bis heute umstritten bleibt, wird von Sente kreativ fortgesponnen.
Im Zentrum steht Angela Brown, eine afroamerikanische Hausangestellte, deren Brüder Opfer weißer Gewalt werden. Brown setzt mit einem schwarzen Baumwollstern – versteckt unter einem weißen Symbol des zukünftigen Amerika – ein geheimes Zeichen gegen Unterdrückung und Rassismus. Ja, wir sind ein Teil dieser neuen Welt, auch wenn man uns nicht sieht.
Die Handlung springt dann ins Jahr 1944, mitten hinein in eine vom zweiten Weltkrieg erschütterte Welt. Johanna Bolton entdeckt in den vereinigten Staaten das Tagebuch von Angela Brown. Die Fahne, um die sich ein Mythos rankt, befindet sich mittlerweile im Besitz eines Nazi-Offiziers. (Hätte dieses Szenario in einem Indiana-Jones-Film stattfinden können? Gewiss, aber genau wie im JÄGER DES VERLORENEN SCHATZES spielt es auch hier keine Rolle, ob ein gewisser Archäologe mit Fedora-Hut und Bullen-Peitsche durch die Szenerie reitet.)

Durch einen Trick gelingt es Johanna, einen alliierten Einsatz zu initiieren. Obwohl Schwarze in dieser Zeit nicht den kämpfenden Truppen zugeordnet sind, erhält Ihr Bruder Lincoln, ein afroamerikanischer Soldat, den riskanten Auftrag, die legendäre Flagge hinter den feindlichen Linien zu bergen. Er und seine Kameraden werden Teil der berühmten Monuments Men.
Der Plot folgt damit zwei Zeitebenen, die geschickt miteinander verbunden sind und stets die historischen Hintergründe im Blick behalten.
Die Figur Angela Brown steht für den unsichtbaren Widerstand, indem sie ihre Trauer und ihren Protest in die Symbolik der entstehenden Nation einwebt. Gleichzeitig entwickelt sich Lincoln Bolton zum modernen Helden. Seine gesellschaftliche Stellung als „Nicht-Kombattant“ resultiert aus der damals alles beherrschenden Diskriminierung. Doch Lincoln widersetzt sich und wächst an seiner Aufgabe.

Zwischen Front und Familie
Das Herzstück von EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE ist Lincoln’s missionarische Reise, welche das fragile Band zwischen Idealen und Realität, zwischen individueller Hoffnung und kollektivem Trauma spürbar macht.
Lincoln ist von Beginn an ein Außenseiter in der Armee. Er wird zum unfreiwilligen Anführer einer kleinen Gruppe, die sich durch das besetzte Europa schlägt. Im Schatten von Wehrmacht und SS entwickelt die Erzählung einen unwiderstehlichen Sog, der sich nicht nur aus der Spannung des Krieges, sondern auch aus der persönlichen Motivation der Hauptfigur speist.
Die Beziehung zwischen Lincoln und Johanna, seiner temperamentvollen Schwester, ist gleichzeitig Rückgrat und Antrieb des gesamten Plots. Johanna agiert als Brückenfigur zwischen Vergangenheit und Gegenwart, da sie mit der Entdeckung des Tagebuchs die Kette der Ereignisse in Gang setzt und die Erinnerung an den „schwarzen Stern“ wach hält. Ihr Charakter ist geprägt von Mut und Durchsetzungskraft, wobei sie als Frau im Amerika der 1940er ebenso gegen Vorurteile und patriarchale Strukturen kämpft wie ihr Bruder in Europa.

Die Nebenfiguren – Kameraden, Hinterbliebene und Antagonisten aus beiden Zeitebenen – sind mit wenigen Strichen treffend charakterisiert. Sie unterstützen Lincoln in seiner Entwicklung oder fungieren als Spiegel seiner inneren Konflikte. Sie verkörpern Gestalten aus verschiedenen Generationen amerikanischer Geschichte und lassen die Unterschiede zwischen Ideal und Wirklichkeit umso schärfer hervortreten. Dabei bleibt die Handlung immer emotional dicht und spannend, ohne ins Melodramatische oder Kitschige zu verfallen.

Dynamik und Düsternis
Die Illustrationen von Steve Cuzor bilden das zweite, gleichberechtigte Standbein von EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE. Sie fallen durch kräftige Schwarzflächen und einen expressiven Strich auf, der durch eine sehr reduzierte Farbwelt unterstützt wird. Stimmungen und Atmosphäre werden gezielt gesteuert.
Cuzor’s künstlerischer Kraft sorgt dafür, dass die Panels nie überladen wirken. Die Bildsprache bleibt stets nachvollziehbar und klar, unterstützt das historische Thema und hebt das Pathos des Textes hervor, ohne ihn zu überlagern.

Die Bildgestaltung verzichtet auf unnötigen Bombast und orientiert sich eher am französisch-belgischen und realistisch-harten Comic. Einzelne Doppelseiten zeigen oft nur ein markantes Detail oder ein emotionales Porträt, was Raum für Reflexion schafft.
Die Farbgebung von Meephe Versaevel setzt dabei unterstützende Akzente. Sie benutzt dominante, monochrome Kolorierungen. Erdige Brauntöne symbolisieren Sicherheit und Tradition im Amerika, während düstere Blauschattierungen und schmutzige Grau- und Grünschimmer die Unsicherheit und Gefahr im Kriegsjahr 1944 heraufbeschwören.

Figuren zwischen Erbe und Aufbruch
Die zentralen Entwicklungen von Angela Brown und Lincoln Bolton sind das Rückgrat des Comics. Angela, anfangs eine Randfigur der amerikanischen Revolution, wächst im Lauf der Erzählung zur eigentlichen Symbolträgerin heran. Ihr geheimer Protest hat über Generationen hinweg Konsequenzen und setzt ein Zeichen, das durch die Jahrhunderte nachwirkt. Angela muss sich in einer feindlichen Welt behaupten. Ihr Akt der Rebellion ist nicht spektakulär, sondern still und nachhaltig.
Lincoln Bolton beginnt als gebrochener, gedemütigter Soldat. Die Mission bringt ihn nicht nur an geografische, sondern auch emotionale Grenzen. Im Verlauf der Geschichte gewinnt er an Selbstbewusstsein und entwickelt sich zum Anführer, zum Brückenbauer zwischen den Kulturen. Lincoln ist ein moderner Außenseiter und Visionär, dessen Entwicklung von Ohnmacht zu eigener Stärke und Solidarität führt.

Johanna Bolton ist die intellektuelle Seele im Gefüge. Ihre Neugier, Eigenständigkeit und ihr Glaube an Gerechtigkeit tragen entscheidend dazu bei, dass die geheime Symbolik überhaupt ans Licht kommt. Sie verkörpert den versöhnenden Geist, der Vergangenheit und Zukunft verbindet.
Die Dialektik zwischen historischem Trauma und individueller Entwicklung wird dabei bereits in wenigen Panels und Dialogen sichtbar. Dadurch bleibt die Handlung vielschichtig und auch für heutige Debatten um Identität, Erinnerung und Widerstand relevant.

Geschichte als roter Faden
EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE hat einen ausgeprägt historischen Rahmen, der weit über eine reine Abenteuergeschichte hinausgeht. Die US-amerikanische Revolution, die Rolle von afroamerikanischen Bürgern im frühen Staat und die Verstrickungen während des Zweiten Weltkriegs sind zentrale Achsen dieser Comic-Erzählung. Der Album nutzt historische Fakten und spekulative Elemente, um die Frage nach Erinnerung und Gerechtigkeit immer wieder neu auszuloten.
Der Szenarist Yves Sente ist bekannt für seine Arbeit an anspruchsvollen Serien wie BLAKE UND MORTIMER. Seine erzählerische Raffinesse zeigt sich insbesondere in der Fähigkeit, komplexe Handlungsstränge und Zeitebenen miteinander zu verweben. In EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE kommen diese Stärken voll zur Geltung.

Die Erzählung ermöglicht tiefe Einblicke in das Innenleben der Figuren und schafft lebendige Übergänge zwischen den Zeiten. Bereits in THORGAL und in XIII hat Sente bewiesen, dass er historische Recherche geschickt mit fiktionalen Elementen verbindet, um vielschichtige Narrative zu erschaffen.
Steve Cuzor, als Zeichner mehrfach preisgekrönt, setzt bei EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE auf einen klaren, dynamischen Strich. Seine Arbeit in BLACK JACK, QUINTETT und XIII MYSTERY ist immer von einer enormen Dichte geprägt, wobei die Panels meist wie Momentaufnahmen wirken. Schön sind im vorliegenden Album auch seine zeichnerischen Referenzen zu schwarzen Schauspielern wie Sammy Davis Jr., Denzel Washington oder Forest Whitaker.
Im aktuellen Band kommt Cuzor’s Fähigkeit zur stimmungsvollen Inszenierung besonders gut zur Geltung, versetzt das Geschehen in einen filmischen Modus und gibt den Figuren Tiefe und Ausdruckskraft.

Fazit
EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE ist ein ambitionierter, erzählerisch anspruchsvoll komponierter Comic über die Macht der Erinnerung, den Kampf gegen Unterdrückung und die Kraft des individuellen Widerstands.
Die verschränkten Zeitebenen, die klug charakterisierten Haupt- und Nebenfiguren sowie die visuelle Kraft der Zeichnungen machen das Werk zu einem Muss für alle Comic-Fans, die sich für Geschichte, Menschen und große Emotionen begeistern.
Der Band bietet großformatig eine spannende Lektüre für Comic-Feinschmecker, ist aber aufgrund klarer Bildsprache und pointierter Erzählung auch für gelegentliche Leser überzeugend.
Das Buch ist nicht nur ein schönes Sammlerstück, sondern ein Statement gegen Rassismus und für gesellschaftlichen Wandel. Wer Geschichte liebt und Comics als Medium der Reflexion und Unterhaltung begreift, sollte EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE unbedingt lesen.
EIN STERN AUS SCHWARZER BAUMWOLLE
© All Verlag | Hardcover | 176 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★★☆
Zeichnungen: ★★★★☆
Farben: ★★★☆☆
Lettering: ★★★★☆
Humor: ☆☆☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★☆
ISBN: 978-3-96804-315-9




