Die Tragödie
Ich wusste ja, dass der liebe Gott mein Baby nicht bei sich behalten könnte! Was weiß der liebe Gott denn schon von Babys? Der Platz eines Babys ist am Herzen seiner Mutter und nicht im Paradies.
Zidrou und Lafebre erzählen eine hinreißende Geschichte um eine junge Mutter, die ihr Baby im Kindbett verliert. Aber ihre Nachbarn sorgen mit viel Mitgefühl und viel Einfühlungsvermögen dafür, dass sie es doch jeden Tag um sich hat. Wie das? Lesen Sie es selbst … [1]
Belgien irgendwann in den 1930er Jahren. Wir lauschen einer Madonnenstatue aus Buchenholz, die hoch an einer Hauswand aus ihrer Nische heraus die kleine Gasse „des Babys mit dem Schnurrbart“ beobachtet und uns von ihrem Logenplatz die Geschichte von Camille, ihrem Baby und der Gemeinschaft der Schnurrbärtler erzählt.
Das namensgebende Baby ist nicht das von Camille. Es ist ein bekritzeltes Werbeplakat, das vor Jahren von einem Spaßvogel „verziert“ und das zur inoffiziellen Namensgeberin der Stichstraße „Baron van Dick“ in der kleinen Gemeinde geworden ist.
Camille ist die einfältige Tochter von Augustin – oder wie sie ihn nennt: Papa Chou-Chou – der als alleinerziehender Vater und Lokomotivführer nicht immer zu Hause sein kann. Als Camille schwanger wird – von wem ist nicht so ganz klar – ist er nicht verärgert, sondern unterstützt sein Mädchen, wo er nur kann. Auch über den schrecklichen Tag hinaus, an dem Camille ihr Kind verliert und sie diesen Verlust kaum erträgt. Dem toten Kind gibt sie den Namen Lydie.
Hier offenbart sich das wahre Herzstück des Comics: Wie die Dorfgemeinschaft Camille in ihrer Trauer unterstützt und gemeinsam eine Realität schafft, in der Lydie existieren kann. Zidrou erzählt diese Geschichte mit viel Feingefühl und schafft es, das schmale Band zwischen Realität und Fantasie kunstvoll auszuloten. Dabei bleibt letztendlich unklar, ob Lydies Rückkehr nur ein Ausdruck der Trauer ist oder ob sich tatsächlich etwas Wundersames ereignet hat.
Die Gemeinschaft
Gleich zu Beginn diskutieren einige „Schnurrbärtler“ im Cafe Lefort Camille’s Schicksal. Aus dem Hintergrund zetert die raubvogelhafte Dorfalkoholikerin, La Malisse, und zieht über das „Flittchen“ her, dass weniger Anstand als Grips habe, nur um im nächsten Augenblick von einem anderen Gast mit harten Worten zurecht gewiesen zu werden: „Auf jeden Fall, was Dich angeht, La Malisse, so würde es mich nicht wundern, wenn sich deine Mutter gerade den Arsch mit Essig abgeschrubbt hätte, als sie dich geboren hat!“
Doch auch wenn man sich hier nicht immer mit Samthandschuhen anfasst, wenn es darauf ankommt, hält man zusammen. Darum verwundert es auch nicht, dass alle – mit Ausnahme einiger Lausbuben natürlich – mitspielen, als Camille eines Tages behauptet, ihre Tochter sei zurückgekehrt. Das Erstaunliche: die Dorfbewohner, anfangs skeptisch, beginnen allmählich, das „unsichtbare“ Kind zu sehen – oder zumindest so zu tun, als ob.
Die Umsetzung
Zidrou und Lafebre erzählen eine herzerwärmende Geschichte mit wunderbaren, grafisch überzeichneten Figuren bis hinein in die Nebenrollen. Die Gasse des Babys mit dem Schnurrbart wird zu einem lebendigen Ort voller skurriler, liebevoll gestalteter Charaktere, deren Gesichtsausdrücke allein schon ganze Geschichten erzählen.
In der Farbauswahl wechseln sich warme Sepiatöne mit sanften Pastellfarben ab, was der Erzählung eine nostalgische, fast träumerische Qualität verleiht. Jordi Lafebre setzt zudem meisterhaft Licht- und Schatteneffekte ein, um Stimmungen zu unterstreichen – seien es die melancholischen Szenen des Verlustes oder die hoffnungsvollen Momente der Gemeinschaft.
Die Kraft dieses Comics
„Lydie“ ist mehr als eine tragische Geschichte über Verlust. Es ist eine Erzählung über Menschlichkeit, über die Kraft der Gemeinschaft und darüber, wie Menschen einander tragen können, wenn das Leben sie zu Boden zwingt. Die zentrale Frage des Comics ist dabei nicht, ob Camille’s Tochter tatsächlich existiert, sondern ob es darauf überhaupt ankommt.
Zidrou zeigt in diesem Werk eine tiefe Empathie für seine Figuren. Die Dorfbewohner hätten Camille ablehnen, auslachen oder gar verstoßen können. Stattdessen wählen sie eine andere Realität: Sie akzeptieren Camille’s Welt, in der ihre Tochter weiterlebt. Diese stille Form der Solidarität und des Mitgefühls ist es, die „Lydie“ zu einem der bewegendsten Comics macht, die man lesen kann.
„Lydie“ ist eine Perle der Comic-Kunst. Die sanfte, berührende Erzählweise von Zidrou trifft auf die meisterhafte Zeichenkunst von Lafebre, welche die Geschichte auf jeder Seite mit Emotionen auflädt. Die Figuren sind lebendig, die Atmosphäre ist dicht, und die Botschaft bleibt lange nach dem Lesen im Herzen.
Das Fazit
Für Liebhaber und Neulinge gleichermaßen ist dieser Comic eine uneingeschränkte Empfehlung. Es ist ein Werk, das die Grenzen zwischen Comic und Literatur verschwimmen lässt und eindrucksvoll beweist, dass grafische Erzählungen ebenso tiefgründig und bewegend sein können wie klassische Romane. Wer sich auf diese Geschichte einlässt, wird belohnt – mit einer Erfahrung, die nachhallt, mit Bildern, die im Kopf bleiben, und mit einem Gefühl der Wärme, das man so schnell nicht vergisst.
Nur die Kürze des Werkes von sechzig Seiten ist etwas, dass ich kritisieren könnte. Man wünscht sich mehr von dieser Wärme, den Geschichten, den Figuren und ihrem Leben. Nur ein bisschen mehr, fünf … vielleicht zehn … Seiten mehr?
Und die Madonna, oben in ihrem luftigen Logenplatz? Sie erhält zum Schluss ebenfalls ebenfalls ihr Kind in die Arme zurückgelegt, ihr Kind, das so lange fort war. Und niemand wird sie mehr die „Madonna des verlorenen Kindes“ nennen. Denn was sind schon Mütter ohne ihre Kinder?
LYDIE
© Salleck Publications | Hardcover | 60 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★★★
Zeichnungen: ★★★★★
Lettering: ★★★★☆
Humor: ★★★☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★★★
ISBN: 978-3-89908-589-1
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