ROSTIGE HERZEN ist eine emotionale Reise zu künstlichen Intelligenzen, menschlichen Robotern und erstarrten Menschen.
Wenn man traurig ist, muss man die Schönheiten der Welt betrachten.
sagt Debry, das Kindermädchen zu seinem Schützling, der jungen Isea.
In einer retrofuturistischen Welt sind Roboter den Menschen zu Diensten. Doch ein Mädchen hegt zu seinem Roboter-Kindermädchen eine bessere Beziehung als zur eigenen gefühlskalten Mutter. Als der Mutterersatz plötzlich verschwindet, beginnt deshalb eine fieberhafte Suche. Dabei wird bei diesem Abenteuer schnell klar, dass sich die gewohnten Machtverhältnisse zwischen Menschen und Robotern auflösen. [1]
Worum es geht
Die Erzählung ROSTIGE HERZEN von Jose Luis Munuera (Szenario und Zeichnungen) und Beka (Szenario) beginnt mir einer Nase. Einer wirklich großen Nase. Und nein, wir befinden uns nicht in einem kleinen, uns wohl bekannten, gallischen Dorf. Wir begegnen einer der bekanntesten Nasen der französischen Literatur, nämlich der von Cyrano de Bergerac, dem Poeten mit einem großen Herzen und ebendieser Nase, die es ihm – nach eigener Katastrophisierung – unmöglich macht, der Liebe seines Lebens offen zu begegnen.
Auch wenn Cyrano bereits im Titel des Albums „Debry, Cyrano und Ich“ genannt wird und er einer der Protagonisten der Anfangsszene ist, dreht sich die Geschichte nicht um ihn, sondern um Isea, einen aufgeweckten Teenager, und Debry, ihren Kindermädchen-Roboter. Ja, richtig gehört, Debry ist eine Maschine.
Beka und Munuera erschaffen in diesem Szenario eine Welt, die in den 20er-Jahren des amerikanischen Südens angesiedelt zu sein scheint, die aber gleichzeitig mit hochmodernen Technologien gesegnet ist, wie z.B. freischwebende Kommunikations- und Unterhaltungsbildschirme oder eben auch mit Roboter, die den Menschen gefährliche oder schwere körperliche Arbeiten abnehmen.
Auf einem solchen Bildschirm betrachtet Isea einen Film über Cyrano, den ihr ihre „Brief“-Freundin Tal empfohlen hat. Nur das man sich in dieser Welt keine Briefe schreibt, sondern per Bildschirm miteinander „videotelefoniert“. Und auf diese Weise gleiten wir geschmeidig zwischen den Panels von einer Welt in die andere.
Eines Tages, als Isea aus der Schule kommt, wartet ihr „Kindermädchen“ Debry nicht wie gewohnt auf sie. Sie ist fort, unauffindbar. Ihre Mutter teilt ihr mit, dass Isea nun zu alt für einen „Kindermädchenroboter“ sei, dass sie – als ein Teenager – lernen müsse, alleine zurecht zu kommen. Doch Isea will diesen Verlust nicht so einfach hinnehmen.
Ihrer letzten, verbliebenen Vertrauten Tal, erklärt sie, dass sie Debry nicht aufgeben werde und sie sich nach ihr auf die Suche machen will. Tal bietet ihr an, sie zu begleiten und die Beiden verabreden sich an einem Treffpunkt in der Nähe. Dort erscheint dann allerdings kein Mädchen namens Tal, sondern Isea’s Klassenkamerad Tilio.
Getreu dem alten Grundsatz „Im Internet weiß niemand, dass Du ein Hund bist“ hat sich Tilio als Tal ausgegeben, um sich mit Isea, der Unnahbaren, anzufreunden. Leider hat er – ganz der Junge mit der Superidee – den Zeitpunkt für den Absprung und die Wahrheit verpasst. Und so müssen sich die Beiden auf der Reise erst einmal verzeihen und zusammen raufen.
Schnell wird klar, dass sie bei ihrer Suche von den Menschen kaum Hilfe zu erwarten haben. Ganz anders als bei der Gemeinschaft der Roboter. Von denen wissen wir bereits, dass es sich hierbei nicht nur um programmierte, mobile Stahlkonstruktionen handelt. Vielmehr vermitteln die meisten von ihnen, dass sie Begriffe wie Gemeinschaftssinn, Hilfsbereitschaft, Fürsorge und Liebe durchaus kennen und leben.
Aber auch in ihren Reihen existieren durch die Menschen eingesetzte „Spürhund“-Roboter, die mit kriminalistischem Gespür ihre Aufgaben erledigen. Das schließt sowohl die Suche nach vermissten Kinder als auch die Beseitigung unerwünschten Verhaltens von Mechanischen ein. Ein solcher Spürhund, wird von Isea’s Mutter und der herbeigerufenen Polizei auf unsere Ausreißer angesetzt.
Die Story-Builder
Hinter dem Pseudonym „Beka“ verbirgt sich das französische Autorengespann Bertrand Escaich und Caroline Roque, dass für verschiedene humoristische Comic-Reihen verantwortlich zeichnet. Zusammen mit Munuera zeigen sie uns jedoch eine kaum humorvolle, eine jedoch an den Steam-Punk angelehnte Welt, in der sich künstliche Intelligenz und Liebe nicht ausschließen. Nur sind die Emotionen eben nicht ausschließlich von den Menschen gepachtet.
Die Roboter nehmen in dieser Geschichte stellvertretend die Plätze der Farbigen dieser Epoche ein. Sie arbeiten als Chauffeure, Haus- und Kindermädchen oder auch auf den weiten Baumwollfeldern ihrer Besitzer. Von vielen Menschen werden sie nur als Sache betrachtet, daher auch der Name „Debry“ (im Englischen bedeutet Debris soviel wie Trümmer, Schutt, Abfall). Isea’s Mutter hat dem Kindermädchen diesen Namen gegeben und dabei auch gleich die ihr fehlende Wertschätzung gegenüber diesem … Ding … zum Ausdruck gebracht.
Aber auch unter diesen „Dingern“ gibt es einige, die sich ein Leben in Freiheit vorstellen können und sich auf den Weg in eine neue, andere Welt gemacht haben. Und wie wir erfahren, gehört auch Debry zu jenen, die mehr wollen, und die sich auf eine Variante der „Underground-Railroad“ gemacht hat.
Das Szenario erinnert mit seinem Setting an große Romane, wie z.B. „Vom Winde Verweht“ oder „Onkel Tom’s Hütte“. Nur das die Autoren mit dem Twist künstlicher Intelligenz eine weitere, interessante Ebene hinzufügen. Können Maschinen lieben? Haben sie eine Seele? Eine alte Frage der Science-Fiction-Literatur bekommt in ROSTIGE HERZEN ein neues Gewand.
Der wesentliche Konflikt zwischen Isea und ihrer gefühlskalten Mutter, die mehr unserer Vorstellung eines Roboters gleicht als es Debry und die anderen ihrer Art je sein werden, zeigt, dass diese Welt nicht in schwarz und weiß aufgeteilt ist. Und Beka werfen eine große Frage auf: Warum will diese Rabenmutter Isea so dringend zurückholen, dass sie ihr unter Gefahren bis in die hintersten Ecken der bekannten Welt folgt? (Die Antwort erhalten wir im letzten Abschnitt. Ich werde es hier aber nicht spoilern.)
Die Charaktere
Das Charakter-Design ist gelungen. Wir verstehen, weshalb Isea Debry folgt und warum ihre Mutter sie nicht gehen lassen will. Im Laufe ihrer Reise muss Erstere sich allerdings fragen lassen, was sie wirklich sucht: Eine Mutter? Eine Dienerin? Eine Person? Oder die Liebe, die sie ihr gegeben hat? Die Figuren-Zeichnung ist überwiegend nachvollziehbar – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn.
Allerdings: Tilio, der als der einzige, farbige Mensch in Erscheinung tritt, bleibt ausgerechnet blass. Seine Motivation, Isea zu begleiten und ihr ein Gefährte zu sein, scheint nur auf der eigenen Suche nach einer wahren Freundschaft zu gründen. Wie Cyrano versteckt er sich hinter einem Trugbild. Aber anders als Cyrano scheint er außer seiner Ron-Weasley-haften Kameradschaft keine besonderen Eigenschaften beizutragen. Ich glaube, die Geschichte würde auch ohne ihn gut funktionieren.
Und dann gibt es noch die Stadt Tusla, die von Robotern gegründet und vor geraumer Zeit von den Spürhunden zerstört wurde. Hintergrund? Hass auf die selbständigen, unabhängigen Maschinen? Das bleibt unklar. Dann gibt es noch die Stadt Tulpa, das neue Tusla. Sie liegt versteckt im Irgendwo, auch sie ist bedroht und schwer zu finden. Isea und Tilio werden auf geheimen Pfaden dort hingebracht, weil auch Debry dort sein soll. Underground-Railroad eben. Ach ja, Isea‘s Mutter und dem sie begleitenden Spürhund gelingt es ohne Probleme, die Stadt aus der Luft zu finden. An dieser Stelle hat das Script eindeutig Schwächen.
Zeichnerische Umsetzung
Die Zeichnungen von Jose Luis Munuera sind wieder abwechslungsreich und leicht antiquiert koloriert, als würde man auf alte Fotografien blicken. Dies setzt eine sehr schöne Dissonanz zwischen dem Rückblick auf eine längst vergangene Zeit und dem futuristischen Setting technologischer Möglichkeiten. Die Sprechblasen und das verwendete Lettering sind gut lesbar.
Cyrano de Bergerac ist ein Mann, der davon überzeugt ist, dass er so, wie er ist, keine Chance hat, die wahre Liebe zu finden. Tilio versteckt sich wie er hinter einem Pseudonym (Tal). Cyrano möchte aber als Person geliebt werden, nicht nur für seine Worte und Gedichte. Mit ihrer Sehnsucht nach Liebe, jenseits ihrer leiblichen Mutter, die für sie keine Gefühle aufzubringen vermag, gleicht wiederum Isea Cyrano. Und Debry? Ihr ist es egal, ob Du eine große Nase hast. Sie bringt Dir ihre Zuneigung entgegen für das, was bzw. wer Du bist und ohne auf Dein Äußeres zu achten. Also sind Roboter die besseren, unvoreingenommenen Liebhaber? Nun, wer weiß … in dieser Geschichte vielleicht schon.
Fazit
Die Serie ist auf drei Alben angelegt. In diesem Band hinterfragen Beka und Munuera die gewohnten Bedeutungen von künstlicher Intelligenz, Seele und Liebe. Das tun sie gut und schubsen uns Leser nachdrücklich in eine Richtung, über unsere eigenen Beziehungen und unsere Selbstwahrnehmung nachzudenken.
Die anderen Alben versprechen, die Themen weiter zu erforschen und sind schon jetzt vorgemerkt. Band 2 – Inspiration ist im Carlsen Verlag schon erschienen.
Band 3, der im französischen Original „Les Coeurs de Ferraille – Sans Penser A Demain“ (also etwa „Ohne an Morgen zu denken“) im Dupuis-Verlag veröffentlicht wurde, fehlt noch. Leider hat sich der Carlsen-Verlag zu meiner Nachfrage, ob bzw. wann mit einer Veröffentlichung zu rechnen sei, bisher nicht geäußert.
ROSTIGE HERZEN – Band 1 – Debry, Cyrano und Ich