Auf den ersten Blick wirkt dieser Band harmlos. Bunte Flächen. Runde Köpfe. Figuren, die aussehen wie Maskottchen aus einem Mobile Game. Schon nach wenigen Seiten merke ich, wie trügerisch dieser Eindruck ist. FRONTIER zeigt eine Zukunft, in der Konzerne das All als verlängerten Tagebau betrachten und die Menschen nur ein vernachlässigbarer Teil der Infrastruktur sind. Eine knuddelige Dystopie also?
Das Album wird fast einhellig gefeiert und die Mischung aus Science-Fiction, Sozialdrama und Coming-of-Age gelobt. Es die emotionale Wucht der Geschichte und das dichte politische Panorama betont. Man hebt die detailverliebten Kulissen hervor und schwärmt von der poetischen Melancholie, die über allem liegt. Darum habe ich das Album mit sehr hohen Voraberwartungen gelesen. Vielleicht waren sie aber tatsächlich zu hoch.
Ja, die Wucht ist da, die Ambition auch. Aber je weiter ich blätterte, desto stärker stören mich Chibi-Art, platte Gegensätze und dramaturgische Abkürzungen. Was viele als Meisterwerk feiern, wirkt auf mich bei genauerer Betrachtung dann doch unausgewogen. Ein Comic mit großartigen Momenten, der sich selbst immer aber immer wieder im Weg steht.
Gerade weil das Buch so hoch gelobt wird, lohnt ein sehr genauer, kritischer Blick. Die Stärken sind kaum zu übersehen, die Schwächen aber auch.

Der Mann hinter den runden Köpfen
Guillaume Singelin ist kein Newcomer, der zufällig im All gelandet ist. Er hat sich mit Werken wie THE GROCERY, KONIG DAVID und vor allem PTSD einen Namen gemacht. Dort beschäftigt er sich mit Trauma, Gewalt und einer Gesellschaft, die ihre Außenseiter auslagert. Er ist Teil des experimentierfreudigen Label 619 und gilt als einer der prägenden Zeichner seiner Szene.
In Interviews erzählt er, wie ihn Filme wie ALIEN und Romane wie DUNE geprägt haben. Entscheidend für seinen Wunsch dieses Buch zu machen, war aber der Erfolg von SHANGRI-LA und CARBONE & SILIZIUM seines Freundes Mathieu Bablet. Diese Werke haben ihn offenbar ermutigt, eine eigene große Science-Fiction-Geschichte anzugehen, die gesellschaftliche Fragen mit Pop-Bildern verknüpft.
Von PTSD ins All
Die Arbeit an der Geschichte begann schon vor Jahren. Notizen, Skizzen und Designstudien reichen z.B. laut Bonusmaterial bis ins Jahr 2013 zurück. Man spürt diese lange Entwicklungszeit. Das Universum wirkt durchdacht, die Ökonomie des Alls ist klar umrissen. Gleichzeitig schleichen sich genau hier erste Probleme ein.
Singelin packt viele seiner Lieblingsthemen in einen einzigen Band: militarisierte Konzerne, kriegsversehrte Söldnerinnen, zynische Manager, Aktivistinnen, die eine andere Welt suchen. Vieles davon kennt man bereits aus seinen früheren Arbeiten. In FRONTIER wirkt es weniger wie eine Weiterentwicklung, eher wie ein Best-of seiner Motive, das sich nicht immer zu einem neuen Ganzen fügt.

Wie eine Sonde zur Ware wird
Die Handlung beginnt auf der Erde. Ein Forschungsteam arbeitet in einem abgelegenen Zentrum an einer neuartigen Sonde. Das Projekt soll das All in einer Tiefe vermessen, von der frühere Programme nur träumen konnten. Im Mittelpunkt steht Ji-Soo Park. Sie glaubt an Wissenschaft, an Neugier und an die Idee, dass Forschung der Menschheit gehören sollte und nicht den Aktionären. Ich erkenne hier starke Star-Trek-Vibes.
Dann kauft der Energieriese „Energy Solution“ das komplette Projekt. Die Vision wird zum Asset. Aus Forschung wird Produktentwicklung. Ji-Soo bleibt im Team, aber nur, weil sie schwer zu ersetzen ist. Innerlich geht sie auf Distanz. Sie sabotiert, verschleppt, stellt Fragen, die niemand hören will. Genau dadurch wird sie zur Störerin, die man aus der Zentrale entfernen kann.

Vom Forschungstraum zur Konzernhölle
Ihre Strafe ist eine Versetzung in den Orbit. Sie landet auf der Plattform „Rock Breaker“, wo Arbeiterinnen und Arbeiter in extremer Umgebung schuften. Viele sind schon im All geboren und haben die Erde nie gesehen. Die Station ist kein heroischer Außenposten, eher eine Mischung aus Bergbau-Knast und schwebender Fabrik. Die Menschen – in Form der Konzerne – haben das All kolonisiert, aber nicht die eigene Gier überwunden. Die Ideale von Star Trek sind an dieser Stelle weit, weit weg.
Hier lernt Ji-Soo Alex kennen. Er ist ein Spacer, ein stiller Typ, der seine Rolle im System lange akzeptiert hat. Gemeinsam entdecken die beiden, dass „Energy Solution“ nicht nur Rohstoffe ausbeutet. Der Konzern experimentiert auch mit Tieren für riskante Forschungsmissionen. An diesem Punkt kippt die Geschichte und aus Passivität wird Widerstand.

Ein Affe, eine Söldnerin und ein viel zu glatter Aufstand
Die Entdeckung der Tierversuche bildet den emotionalen Kern des zweiten Aktes. Das prominenteste Opfer ist ein Affe. Ji-Soo und Alex können nicht tatenlos zusehen und befreien die Tiere. Sie lösen damit eine Kettenreaktion aus. Die Flucht aus der Station gerät zur blutigen Eskalation, deren Szenen mit ihrer Härte in starkem Kontrast zur Cosy-Optik des ganzen Albums steht.
In den Wirren dieser Flucht stoßen die beiden auf Camina. Sie ist eine ehemalige Söldnerin, die im Dienste der Konzerne gekämpft hat und nun an Körper und Seele gezeichnet ist. Sie bringt Kampferfahrung mit und verkörpert die Perspektive derjenigen, die lange Teil der Maschine waren. Zusammen formt das Trio eine fragile Gemeinschaft. Sie wollen nicht mehr funktionieren, sondern sich dem System entziehen.
Hier zeigt Singelin eine Reihe starker Szenen. Kämpfe in der Schwerelosigkeit, Sabotageakte, enge Korridore, in denen jede Explosion Menschen in Stücke reißt. Die Brutalität erinnert daran, dass hier keine „saubere“ Science-Fiction erzählt wird. Gleichzeitig beginnt die Dramaturgie zu gleiten.
Viele Wendungen wirken wie bekannte Versatzstücke. Der Aufstand entsteht sehr schnell, Figuren schließen sich an, weil es die Handlung verlangt, nicht weil der Comic ihre Entscheidung sorgfältig vorbereitet hätte.

Zwischen Massengrab und Utopie aus dem Katalog
Nach der Flucht beginnt eine Odyssee durch unterschiedliche Stationen und Planeten. Das Trio erlebt Massengräber von Arbeiterinnen, die für den Konzern entbehrlich wurden. Es besucht Minenkolonien, in denen moderne Sklaverei Teil des Alltags ist. Der Comic spielt hier auf reale Debatten über seltene Erden und globale Lieferketten an. Die Zukunft ist gar nicht so weit weg.
Je weiter die Reise geht, desto stärker rückt eine Frage in den Mittelpunkt: Wo kann man in einem System überleben, das auf Ausbeutung aufbaut? Die Antwort liefert eine versteckte Station, die wie ein Gegenentwurf zu den Konzernwelten inszeniert ist. Gemeinschaftsgärten ersetzen Fabrikhallen. Es gibt kein Geld mehr, Menschen teilen ihr Wissen, reparieren Dinge und nehmen Geflüchtete auf. Utopia lässt grüßen.

Wenn Rebellion auf dem Reißbrett entsteht
Genau hier kollabiert für mich aber ein Teil der Glaubwürdigkeit. Die Utopie wirkt wie ein fertiges Modell, das aus einem politischen Flyer kommen könnte. Kann es diesen Ort in einer solchen Realität überhaupt geben? Er funktioniert eher als Projektionsfläche für die „gute“ Gesellschaft und weniger als Alternative für Aussteiger.
Der Schluss verbindet diesen Zufluchtsort mit einem großen Showdown. Wieder fliegt alles in die Luft. Wieder zahlen einfache Menschen den Preis. Emotional funktioniert das, weil man die Figuren inzwischen kennt. Politisch bleibt jedoch ein schaler Nachgeschmack, ein großer Reset, der zu glatt daherkommt und mehr behauptet als durchspielt.

Chibi-Gesichter im Blech-Nirwana
Über den Zeichenstil herrscht bei den anderen Kritiken erstaunlich viel Einigkeit. Fast alle Besprechungen heben die unglaubliche Detailfülle hervor. Raumstationen, Minenschiffe, Planetenoberflächen, Schrottgürtel. Jede Seite wirkt auf mich jedoch wie ein Wimmelbild, das zum längeren Inspizieren einladen will. Irgendwann ist mein Kopf allerdings voll.
Chibi-Art bedeutet überzeichnete Proportionen, große Köpfe, kleine Körper, starke Vereinfachung der Gesichter. Die Figuren sehen kindlich aus, oft sogar ein wenig knautschig. Das erzeugt einen gewissen Charme und macht die gezeigten Gewaltspitzen aber umso härter.
Ich ringe mit diesem Ansatz. In ruhigen Momenten funktioniert er gut. Der Blick folgt der Körpersprache. Kleine Haltungen erzählen von Müdigkeit, Trotz oder Feigheit. In den Action-Passagen kippt der Effekt jedoch. Die Chibi-Körper fliegen wie Gummifiguren verharmlosend durch den Raum. Tote sehen oft genauso aus wie Lebende und bei mir verpufft der gewünschte emotionale Schlag.
Hinzu kommt die Frage zur Lesbarkeit, denn manche Seiten wirken überfrachtet. In vielen Panels konkurrieren technische Details, Hintergrundgags und winzige Figuren um meine Aufmerksamkeit. Das ist beeindruckend, aber es erschwert meinen Lesefluss. Ich finde, weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen.

Drei Menschen, ein Affe und viele Klischees
Ji-Soo, Alex und Camina tragen die Geschichte. Sie holen den abstrakten Kapitalismus-Kritik-Plot auf eine menschliche Ebene und scheinen Solidarität gegen ein System zu stellen, das Profit über alles erhebt. In Wirklichkeit ist es differenzierter.
Ji-Soo ist die klassische Idealistin, die an ihrem eigenen Anspruch scheitert. Alex verkörpert den müden Arbeiter, der spät merkt, dass Anpassung ihn nicht schützt. Camina ist die traumatisierte Kriegerin mit gutem Kern. Das sind funktionale Archetypen. Sie funktionieren in der Handlung und erzeugen Sympathie, jedoch bleiben ihre inneren Konflikte erstaunlich schematisch.
Ji-Soo soll lernen, ihren Hass zu überwinden. Alex soll Verantwortung übernehmen. Camina soll eine neue Rolle finden. Oft passieren diese Verlagerungen in wenigen Szenen oder sogar nur im Off. Figuren, die angeblich kaum miteinander können, funktionieren im nächsten Kapitel problemlos als eingeschworenes Team.
Was mich auch stört ist, dass viele Nebenfiguren nur als Verstärker für die Botschaft dienen. Die gütige Gärtnerin, der zynische Offizier oder die ausgebeutete Arbeiterin, die kurz vor dem Tod noch einen eindringlichen Satz sagt sind emotional effektiv, aber durchschaubar. Der Comic sortiert seine Figuren sehr schnell in „rettenswert“ oder in Teil des Problems, schwarz oder weiß. Ich sehe auf den 200 Seiten keine Graustufen.
Kapitalismuskritik mit dem Holzhammer
Niemand kann Singelin vorwerfen, dass er unpolitisch wäre. FRONTIER zeigt Konzerne, die Planeten plündern, Arbeiterinnen einsperren und jeden Widerstand brutal niederschlagen. Der Bezug zu Gegenwartsthemen wie z.B. seltene Erden, Arbeitsrechte, Fluchtbewegungen oder ökologische Katastrophen ist eindeutig.
Das Problem liegt weniger im Anliegen, mehr in der Ausführung. Die Konzerne sind durchweg monströs. Manager und Söldner agieren fast immer als Karikaturen, die keine Zwischentöne kennen. Auf der anderen Seite stehen reine Opfer und ein idealisierter Zufluchtsort, der jedes ökonomische Problem elegant ausblendet.

Kapitalismus böse, Kommune gut
Natürlich darf eine Fiktion vereinfachen. Aber hier wird eine komplexe Debatte in Schablonen gepresst und über das Styling verniedlicht. Kapitalismus ist böse, Gemeinschaft ist gut. Das mag emotional funktionieren. Es liefert nur wenig neue Einsichten.
Die interessantesten Momente entstehen dort, wo Figuren zwischen den Fronten stehen. Camina, die vom Gewaltapparat lebt und sich gleichzeitig davon lösen will. Arbeiter, die wissen, dass der Konzern sie zerstört, aber keine Alternative sehen.
Solche Spannungen tauchen immer wieder auf. Der Comic entwickelt sie nur selten konsequent. Stattdessen kehrt er zum vertrauten Bild zurück. Unternehmen sind abstrakte Monster. Die Hoffnung liegt in einer bewusst handelnden Gemeinschaft. Das ist nicht falsch, es ist nur im Jahr 2025 als Aussage ziemlich dünn.
Struktur, Tempo und meine Müdigkeit beim Blättern
Ich fand den Einstieg in das Album sperrig. Der Auftakt ist tatsächlich zäh. Lange Sequenzen im Forschungslabor. Viele erklärende Dialoge. Gleichzeitig deutet Singelin nur an, wie die politische Ordnung der Erde aussieht. Ja, hier geht es um Worldbuilding. Und doch ist es ein Comic für einen Abend auf der Couch und kein Computerspiel, mit dem ich die kommenden Tage verbringen will – obwohl ich es bei der Vielzahl von Eindrücken wohl muss.
Der Mittelteil gewinnt, sobald das Trio gemeinsam unterwegs ist. Hier entstehen dichte, fast schon filmische Szenen. Der Rhythmus kippt, wenn der Comic zwischen Schockbildern und ruhigen Beobachtungen springt. Manchmal geschieht das harmonisch, manchmal wirkt es wie das Abhaken einer To-do-Liste: Jetzt brauchen wir einen großen Angriff! Jetzt ein leises Gespräch unter Sternenhimmel! Jetzt ein moralisches Dilemma!

Overkill
Hinzu kommt die zeichnerische Überfrachtung. Besonders in breiten Panoramen verschwimmen Figuren, Maschinen und Landschaft. Ich hatte es schwer, mich zu entscheiden: Sollte ich der Handlung folgen und zuerst den Text lesen? Oder koste ich die Bilder aus und verliere vielleicht den narrativen Faden?
Im letzten Drittel dann wirkt die Geschichte wiederum seltsam gehetzt. Die Utopie wird eingeführt, geprüft und verteidigt, bevor sie sich wirklich entfalten kann. Ein Band mit 200 Seiten fühlt sich plötzlich kurz an.
Fazit
Nach der Lektüre verstehe ich, warum so viele Menschen diesen Comic lieben. Das Buch ist visuell beeindruckend. Es erzählt von Freundschaft, Solidarität und dem Versuch, sich einem zerstörerischen System zu entziehen. Es hat wichtige Preise gewonnen und steht auf mehreren Best-of-Listen für aktuelle Science-Fiction-Comics.
Gleichzeitig bleiben meine Vorbehalte massiv. Die politische Ebene ist oft platt. Die Utopie wirkt am Ende wie ein Poster, nicht wie ein ernsthaft gedachtes Gesellschaftsmodell. Die Chibi-Optik nimmt vielen Szenen ihre Schärfe, statt sie zu verstärken. Die Figuren berühren, aber sie überraschen nur selten. Und die erzählerische Struktur ist weniger souverän, als der erste Eindruck vermuten lässt.
Trotzdem würde ich FRONTIER nicht ignorieren. Im Gegenteil. Wer sich für Comics interessiert, die zwischen Manga-Ästhetik, europäischer Science-Fiction und linker Kapitalismuskritik pendeln, kommt um dieses Buch nicht herum. Es ist ein Werk, an dem man sich reiben kann. Man kann es lieben, man kann sich daran abarbeiten, man kann es großartig oder überbewertet finden.
Meine Empfehlung: Lies‘ den Band, aber lass‘ Dich nicht vom Hype lenken. Nutze die üppigen Bilder, um inne zuhalten, lass‘ Dir Zeit und stell‘ Dir beim Lesen immer wieder eine Frage: Wo wird hier wirklich erzählt? Und wo wird nur behauptet?
Wenn ein Comic so viel Gesprächsstoff liefert, hat er seinen Job am Ende doch erfüllt…
FRONTIER
© Splitter Verlag | Hardcover | 200 Seiten | Farbe
Storyline: ★★★☆☆
Zeichnungen: ★★★☆☆
Farben: ★★★☆☆
Lettering: ★★★☆☆
Humor: ★☆☆☆☆
Meine persönliche Bewertung: ★★★☆☆
ISBN: 978-3-68950-020-7




